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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Ihr Vorkommen und Verlauf.
Fällen, bei geschwächter Sensibilität der Haut, auffallend. Erst in
der letzten Periode werden die Kranken gewöhnlich mager; es kommen
Brandschorfe auf der Haut, namentlich des Rückens, oft mit grossen
Abscessen und weit greifenden Eiterungen, Infiltration der Extremitäten
und die Kranken erliegen einem hectischen Fieber, das in manchen
Fällen mit Eiteraufnahme, in andern mit acuten oder chronischen
Darmcatarrhen, begleitet von profuser Diarrhöe und Ulceration des
Darms, anderemale mit allgemeiner Tuberculose zusammenhängt.
Einzelne sterben auch an Pneumonie, an Unglücksfällen etc.

§. 132.

Diese Paralyse der Geisteskranken kommt nach allen bekannt
gewordenen Erfahrungen unendlich viel häufiger bei Männern als bei
Weibern vor. Bei Calmeil kam auf 15 geisteskranke Männer ein
Paralytischer, unter den Weibern eine auf 50; *) nach Bayle kam
Paralyse in Charenton bei den Männern 8mal häufiger als bei den
Weibern vor **) und Foville ***) zählte unter 334 Irren 31 Para-
lytische, darunter 22 Männer und 9 Weiber. Die Ursachen dieses
Verhältnisses sind dunkel; es liesse sich vermuthen, dass die bei den
Männern viel häufigeren Excesse in spirituosen Getränken das Gehirn
zu solchen Affectionen prädisponirten (s. oben p. 246); andrer-
seits glaubt Lallemand +), dass bei manchen dieser Kranken die Para-
lyse in Folge von Spermatorrhöe entstehe und unter deren Ein-
flusse fortschreite. Dass die Kranken, welche nach vorausgegangenen
Excessen in Irresein verfallen, eher zur Paralyse geneigt sind, wird
allgemein angenommen; man schreibt es zu grossem Theile diesem
Umstande zu, dass in Frankreich unter den Paralytischen so viele
frühere Militärs gefunden werden. -- Auch das Clima scheint von
Einfluss auf die Häufigkeit der Paralyse zu sein; sie ist in südlichen
Ländern (z. B. schon in Südfrankreich) seltener als im Norden.

Die Dauer der Paralyse ist von einigen Monaten bis zu höchstens
drei Jahren. In ihren Familien verpflegt, leben die Kranken länger,
als in den Irrenanstalten, da ihre Verpflegung in den höheren Graden
dieselbe Mühe und Sorgfalt in Anspruch nimmt, wie die eines Neu-
gebornen. Der Verlauf der Affection wird nicht nur durch die er-
wähnten Anfälle von Kopfcongestion zum Nachtheil des Kranken unter-

*) l. c. p. 371.
**) l. c. p. 403.
***) Dict. de med. et de chir. prat. Art. Alienation. p. 505.
+) Pertes seminales. III. p. 194 seqq.

Ihr Vorkommen und Verlauf.
Fällen, bei geschwächter Sensibilität der Haut, auffallend. Erst in
der letzten Periode werden die Kranken gewöhnlich mager; es kommen
Brandschorfe auf der Haut, namentlich des Rückens, oft mit grossen
Abscessen und weit greifenden Eiterungen, Infiltration der Extremitäten
und die Kranken erliegen einem hectischen Fieber, das in manchen
Fällen mit Eiteraufnahme, in andern mit acuten oder chronischen
Darmcatarrhen, begleitet von profuser Diarrhöe und Ulceration des
Darms, anderemale mit allgemeiner Tuberculose zusammenhängt.
Einzelne sterben auch an Pneumonie, an Unglücksfällen etc.

§. 132.

Diese Paralyse der Geisteskranken kommt nach allen bekannt
gewordenen Erfahrungen unendlich viel häufiger bei Männern als bei
Weibern vor. Bei Calmeil kam auf 15 geisteskranke Männer ein
Paralytischer, unter den Weibern eine auf 50; *) nach Bayle kam
Paralyse in Charenton bei den Männern 8mal häufiger als bei den
Weibern vor **) und Foville ***) zählte unter 334 Irren 31 Para-
lytische, darunter 22 Männer und 9 Weiber. Die Ursachen dieses
Verhältnisses sind dunkel; es liesse sich vermuthen, dass die bei den
Männern viel häufigeren Excesse in spirituosen Getränken das Gehirn
zu solchen Affectionen prädisponirten (s. oben p. 246); andrer-
seits glaubt Lallemand †), dass bei manchen dieser Kranken die Para-
lyse in Folge von Spermatorrhöe entstehe und unter deren Ein-
flusse fortschreite. Dass die Kranken, welche nach vorausgegangenen
Excessen in Irresein verfallen, eher zur Paralyse geneigt sind, wird
allgemein angenommen; man schreibt es zu grossem Theile diesem
Umstande zu, dass in Frankreich unter den Paralytischen so viele
frühere Militärs gefunden werden. — Auch das Clima scheint von
Einfluss auf die Häufigkeit der Paralyse zu sein; sie ist in südlichen
Ländern (z. B. schon in Südfrankreich) seltener als im Norden.

Die Dauer der Paralyse ist von einigen Monaten bis zu höchstens
drei Jahren. In ihren Familien verpflegt, leben die Kranken länger,
als in den Irrenanstalten, da ihre Verpflegung in den höheren Graden
dieselbe Mühe und Sorgfalt in Anspruch nimmt, wie die eines Neu-
gebornen. Der Verlauf der Affection wird nicht nur durch die er-
wähnten Anfälle von Kopfcongestion zum Nachtheil des Kranken unter-

*) l. c. p. 371.
**) l. c. p. 403.
***) Dict. de méd. et de chir. prat. Art. Aliénation. p. 505.
†) Pertes séminales. III. p. 194 seqq.
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[285/0299] Ihr Vorkommen und Verlauf. Fällen, bei geschwächter Sensibilität der Haut, auffallend. Erst in der letzten Periode werden die Kranken gewöhnlich mager; es kommen Brandschorfe auf der Haut, namentlich des Rückens, oft mit grossen Abscessen und weit greifenden Eiterungen, Infiltration der Extremitäten und die Kranken erliegen einem hectischen Fieber, das in manchen Fällen mit Eiteraufnahme, in andern mit acuten oder chronischen Darmcatarrhen, begleitet von profuser Diarrhöe und Ulceration des Darms, anderemale mit allgemeiner Tuberculose zusammenhängt. Einzelne sterben auch an Pneumonie, an Unglücksfällen etc. §. 132. Diese Paralyse der Geisteskranken kommt nach allen bekannt gewordenen Erfahrungen unendlich viel häufiger bei Männern als bei Weibern vor. Bei Calmeil kam auf 15 geisteskranke Männer ein Paralytischer, unter den Weibern eine auf 50; *) nach Bayle kam Paralyse in Charenton bei den Männern 8mal häufiger als bei den Weibern vor **) und Foville ***) zählte unter 334 Irren 31 Para- lytische, darunter 22 Männer und 9 Weiber. Die Ursachen dieses Verhältnisses sind dunkel; es liesse sich vermuthen, dass die bei den Männern viel häufigeren Excesse in spirituosen Getränken das Gehirn zu solchen Affectionen prädisponirten (s. oben p. 246); andrer- seits glaubt Lallemand †), dass bei manchen dieser Kranken die Para- lyse in Folge von Spermatorrhöe entstehe und unter deren Ein- flusse fortschreite. Dass die Kranken, welche nach vorausgegangenen Excessen in Irresein verfallen, eher zur Paralyse geneigt sind, wird allgemein angenommen; man schreibt es zu grossem Theile diesem Umstande zu, dass in Frankreich unter den Paralytischen so viele frühere Militärs gefunden werden. — Auch das Clima scheint von Einfluss auf die Häufigkeit der Paralyse zu sein; sie ist in südlichen Ländern (z. B. schon in Südfrankreich) seltener als im Norden. Die Dauer der Paralyse ist von einigen Monaten bis zu höchstens drei Jahren. In ihren Familien verpflegt, leben die Kranken länger, als in den Irrenanstalten, da ihre Verpflegung in den höheren Graden dieselbe Mühe und Sorgfalt in Anspruch nimmt, wie die eines Neu- gebornen. Der Verlauf der Affection wird nicht nur durch die er- wähnten Anfälle von Kopfcongestion zum Nachtheil des Kranken unter- *) l. c. p. 371. **) l. c. p. 403. ***) Dict. de méd. et de chir. prat. Art. Aliénation. p. 505. †) Pertes séminales. III. p. 194 seqq.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/299>, abgerufen am 16.04.2024.