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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Prognose nach
§. 155.

Auch einige der im 2. Buche erörterten ätiologischen Mo-
mente
sind von prognostischer Bedeutung. Es ist entschieden, dass
das Irresein im jugendlichen Alter häufiger gehoben werden kann als
im vorgerückten; doch sieht man zuweilen frische Erkrankungsfälle auch
im 50sten bis 60sten Lebensjahre und später wieder genesen, und nur
der senile Blödsinn bietet hier eine absolut traurige Prognose dar. --
Die im Durchschnitt angenommene *) grössere Heilbarkeit des Irreseins
beim weiblichen Geschlecht ist wohl in erster Reihe der grösseren
Seltenheit der allgemeinen Paralyse zuzuschreiben; Jessen **) hat
besonders für die älteren Fälle günstigere Heilungsverhältnisse
bei den Weibern erhalten, wonach es scheint, dass bei den Männern
im Duchschnitt ein unheilbarer Zustand früher eintrete. -- Gegen
die Fälle erblichen Irreseins besteht beinahe überall ein höchst un-
günstiges prognostisches Vorurtheil, welches bei der vorweg präsu-
mirten Unheilbarkeit oft die Versäumung der nothwendigen therapeu-
tischen Massregeln zur Folge hat. Es ist aber durch viele Genesun-
gen in solchen Fällen constatirt, dass durch Erblichkeit an sich noch
durchaus keine Unheilbarkeit begründet wird; doch sind bei solchen
Genesenen Rückfälle allerdings eher zu erwarten. -- Die Anlage und
Ausbildung der Charactereigenthümlichkeiten, das Mass psychischer
Widerstandsfähigkeit, die leichtere oder schwierigere Hingabe an die
Krankheit wie an die heilenden Einflüsse gehören zu den bedeutend-
sten Momenten für die Prognose. Ganz schlimm sind die allmählig
entwickelten Erkrankungen bei Individuen, die sich schon von Jugend
an durch excessive Launenhaftigkeit, durch grillenhafte Geschmacks-
und excentrische Geistesrichtung bemerklich gemacht haben; gleich-
falls ungünstig sind die nach langen schmerzlichen Seelenbewegungen
entstandenen Fälle, nach vieljährigem Kummer, langem Schwanken
zwischen Hoffnung, erschütterndem Zweifel und endlicher Versagung,
nach intensen Leidenschaften, auf deren Stürme innerliche Verödung
folgte; jene tieferen Wunden heilen nicht ohne grosse geistige Sub-
stanzverluste, oft folgt ihnen eine wahre Zerrüttung der psychischen
Constitution und es stehen die hiehergehörigen Fälle an Heilbarkeit
denen weit nach, die aus einer plötzlichen Seelenerschütterung,
Schrecken u. dgl. entstanden sind.

Die nach Kopfverletzungen, nach acuter Meningitis, nach blutiger

*) Mit einzelnen Ausnahmen (Ideler, Bottex).
**) l. c. 664.
Prognose nach
§. 155.

Auch einige der im 2. Buche erörterten ätiologischen Mo-
mente
sind von prognostischer Bedeutung. Es ist entschieden, dass
das Irresein im jugendlichen Alter häufiger gehoben werden kann als
im vorgerückten; doch sieht man zuweilen frische Erkrankungsfälle auch
im 50sten bis 60sten Lebensjahre und später wieder genesen, und nur
der senile Blödsinn bietet hier eine absolut traurige Prognose dar. —
Die im Durchschnitt angenommene *) grössere Heilbarkeit des Irreseins
beim weiblichen Geschlecht ist wohl in erster Reihe der grösseren
Seltenheit der allgemeinen Paralyse zuzuschreiben; Jessen **) hat
besonders für die älteren Fälle günstigere Heilungsverhältnisse
bei den Weibern erhalten, wonach es scheint, dass bei den Männern
im Duchschnitt ein unheilbarer Zustand früher eintrete. — Gegen
die Fälle erblichen Irreseins besteht beinahe überall ein höchst un-
günstiges prognostisches Vorurtheil, welches bei der vorweg präsu-
mirten Unheilbarkeit oft die Versäumung der nothwendigen therapeu-
tischen Massregeln zur Folge hat. Es ist aber durch viele Genesun-
gen in solchen Fällen constatirt, dass durch Erblichkeit an sich noch
durchaus keine Unheilbarkeit begründet wird; doch sind bei solchen
Genesenen Rückfälle allerdings eher zu erwarten. — Die Anlage und
Ausbildung der Charactereigenthümlichkeiten, das Mass psychischer
Widerstandsfähigkeit, die leichtere oder schwierigere Hingabe an die
Krankheit wie an die heilenden Einflüsse gehören zu den bedeutend-
sten Momenten für die Prognose. Ganz schlimm sind die allmählig
entwickelten Erkrankungen bei Individuen, die sich schon von Jugend
an durch excessive Launenhaftigkeit, durch grillenhafte Geschmacks-
und excentrische Geistesrichtung bemerklich gemacht haben; gleich-
falls ungünstig sind die nach langen schmerzlichen Seelenbewegungen
entstandenen Fälle, nach vieljährigem Kummer, langem Schwanken
zwischen Hoffnung, erschütterndem Zweifel und endlicher Versagung,
nach intensen Leidenschaften, auf deren Stürme innerliche Verödung
folgte; jene tieferen Wunden heilen nicht ohne grosse geistige Sub-
stanzverluste, oft folgt ihnen eine wahre Zerrüttung der psychischen
Constitution und es stehen die hiehergehörigen Fälle an Heilbarkeit
denen weit nach, die aus einer plötzlichen Seelenerschütterung,
Schrecken u. dgl. entstanden sind.

Die nach Kopfverletzungen, nach acuter Meningitis, nach blutiger

*) Mit einzelnen Ausnahmen (Ideler, Bottex).
**) l. c. 664.
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[336/0350] Prognose nach §. 155. Auch einige der im 2. Buche erörterten ätiologischen Mo- mente sind von prognostischer Bedeutung. Es ist entschieden, dass das Irresein im jugendlichen Alter häufiger gehoben werden kann als im vorgerückten; doch sieht man zuweilen frische Erkrankungsfälle auch im 50sten bis 60sten Lebensjahre und später wieder genesen, und nur der senile Blödsinn bietet hier eine absolut traurige Prognose dar. — Die im Durchschnitt angenommene *) grössere Heilbarkeit des Irreseins beim weiblichen Geschlecht ist wohl in erster Reihe der grösseren Seltenheit der allgemeinen Paralyse zuzuschreiben; Jessen **) hat besonders für die älteren Fälle günstigere Heilungsverhältnisse bei den Weibern erhalten, wonach es scheint, dass bei den Männern im Duchschnitt ein unheilbarer Zustand früher eintrete. — Gegen die Fälle erblichen Irreseins besteht beinahe überall ein höchst un- günstiges prognostisches Vorurtheil, welches bei der vorweg präsu- mirten Unheilbarkeit oft die Versäumung der nothwendigen therapeu- tischen Massregeln zur Folge hat. Es ist aber durch viele Genesun- gen in solchen Fällen constatirt, dass durch Erblichkeit an sich noch durchaus keine Unheilbarkeit begründet wird; doch sind bei solchen Genesenen Rückfälle allerdings eher zu erwarten. — Die Anlage und Ausbildung der Charactereigenthümlichkeiten, das Mass psychischer Widerstandsfähigkeit, die leichtere oder schwierigere Hingabe an die Krankheit wie an die heilenden Einflüsse gehören zu den bedeutend- sten Momenten für die Prognose. Ganz schlimm sind die allmählig entwickelten Erkrankungen bei Individuen, die sich schon von Jugend an durch excessive Launenhaftigkeit, durch grillenhafte Geschmacks- und excentrische Geistesrichtung bemerklich gemacht haben; gleich- falls ungünstig sind die nach langen schmerzlichen Seelenbewegungen entstandenen Fälle, nach vieljährigem Kummer, langem Schwanken zwischen Hoffnung, erschütterndem Zweifel und endlicher Versagung, nach intensen Leidenschaften, auf deren Stürme innerliche Verödung folgte; jene tieferen Wunden heilen nicht ohne grosse geistige Sub- stanzverluste, oft folgt ihnen eine wahre Zerrüttung der psychischen Constitution und es stehen die hiehergehörigen Fälle an Heilbarkeit denen weit nach, die aus einer plötzlichen Seelenerschütterung, Schrecken u. dgl. entstanden sind. Die nach Kopfverletzungen, nach acuter Meningitis, nach blutiger *) Mit einzelnen Ausnahmen (Ideler, Bottex). **) l. c. 664.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/350>, abgerufen am 25.04.2024.