Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Irren-Anstalten.
immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die Kälte seiner Um-
gebung oder gar den Spott niedrigdenkender Menschen für immer
ferne zu halten!


Fünftes Capitel.
Die Irren-Anstalten.
§. 186.

Den früheren Zeiten war der im Grossen durchgeführte Zweck
der Irrenheilung unbekannt. In der einzigen Rücksicht, die Gefahren
zu beseitigen, welche das freie Umhertreiben der Geisteskranken für
die Gesunden und für die öffentliche Ordnung hatte, wurde ein Theil
von ihnen theils in Hospitälern, theils in Zucht- und Arbeitshäusern,
meist in den schlechtesten und verborgensten Räumen, zusammen-
gesperrt. An ihre Behandlung als Kranke dachte man nicht, und
den Zweck, sie unschädlich zu machen, führte man meist, veranlasst
durch das Vorurtheil ihrer unmässigen Körperkraft, mit den rohesten
Mitteln aus. Hinter dicken Balken und Eisenstangen, oft noch mit
Ketten beladen, liess man die Unglücklichen in Jammer und Schmutz
verkommen; unter Martern und Schlägen musste das Menschliche in
ihnen selbst untergehen; wer einmal den Fuss über die Schwelle
jener Tollhäuser gesetzt hatte, war als ein für immer Verlorener zu
betrachten. Diese Schicksale trafen die Irren an manchen Orten
noch bis in die neueste Zeit; noch im Jahr 1833 klagte Ferrus, dass
man in einigen französischen Provinzialstädten die Irren noch in
Käfige eingesperrt finde, und noch sieht man an einzelnen Orten
solche massive Elephantenställe, vor denen die stupide Neugier
steht, um den Narren zu reizen und seine Flüche zu verspotten.

In die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt die Errichtung der
ersten Anstalt, welche ausdrücklich und ausschliesslich den Heilzweck
verfolgen sollte, St. Lucas in London, lange das einzige Beispiel des
erwachenden menschlicheren Sinnes für die Irren. Ihr folgte später
die Errichtung der Anstalt für geisteskranke Quäcker bei York; auf
dem Continent war erst Pinels Wirken für die Verbesserung des
Looses der Irren entscheidend. Angeregt von den grossen huma-
nistischen Ideen seiner Zeit, setzte er, eben während der stürmischen
Tage der Revolution und Anfangs nicht ohne Gefahr für seine eigene
Existenz, dicht vor den Thoren von Paris, in Bicetre, seine grossen

Die Irren-Anstalten.
immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die Kälte seiner Um-
gebung oder gar den Spott niedrigdenkender Menschen für immer
ferne zu halten!


Fünftes Capitel.
Die Irren-Anstalten.
§. 186.

Den früheren Zeiten war der im Grossen durchgeführte Zweck
der Irrenheilung unbekannt. In der einzigen Rücksicht, die Gefahren
zu beseitigen, welche das freie Umhertreiben der Geisteskranken für
die Gesunden und für die öffentliche Ordnung hatte, wurde ein Theil
von ihnen theils in Hospitälern, theils in Zucht- und Arbeitshäusern,
meist in den schlechtesten und verborgensten Räumen, zusammen-
gesperrt. An ihre Behandlung als Kranke dachte man nicht, und
den Zweck, sie unschädlich zu machen, führte man meist, veranlasst
durch das Vorurtheil ihrer unmässigen Körperkraft, mit den rohesten
Mitteln aus. Hinter dicken Balken und Eisenstangen, oft noch mit
Ketten beladen, liess man die Unglücklichen in Jammer und Schmutz
verkommen; unter Martern und Schlägen musste das Menschliche in
ihnen selbst untergehen; wer einmal den Fuss über die Schwelle
jener Tollhäuser gesetzt hatte, war als ein für immer Verlorener zu
betrachten. Diese Schicksale trafen die Irren an manchen Orten
noch bis in die neueste Zeit; noch im Jahr 1833 klagte Ferrus, dass
man in einigen französischen Provinzialstädten die Irren noch in
Käfige eingesperrt finde, und noch sieht man an einzelnen Orten
solche massive Elephantenställe, vor denen die stupide Neugier
steht, um den Narren zu reizen und seine Flüche zu verspotten.

In die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt die Errichtung der
ersten Anstalt, welche ausdrücklich und ausschliesslich den Heilzweck
verfolgen sollte, St. Lucas in London, lange das einzige Beispiel des
erwachenden menschlicheren Sinnes für die Irren. Ihr folgte später
die Errichtung der Anstalt für geisteskranke Quäcker bei York; auf
dem Continent war erst Pinels Wirken für die Verbesserung des
Looses der Irren entscheidend. Angeregt von den grossen huma-
nistischen Ideen seiner Zeit, setzte er, eben während der stürmischen
Tage der Revolution und Anfangs nicht ohne Gefahr für seine eigene
Existenz, dicht vor den Thoren von Paris, in Bicêtre, seine grossen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0396" n="382"/><fw place="top" type="header">Die Irren-Anstalten.</fw><lb/>
immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die Kälte seiner Um-<lb/>
gebung oder gar den Spott niedrigdenkender Menschen für immer<lb/>
ferne zu halten!</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#b">Fünftes Capitel.</hi><lb/><hi rendition="#i">Die Irren-Anstalten</hi>.</head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 186.</head><lb/>
              <p>Den früheren Zeiten war der im Grossen durchgeführte Zweck<lb/>
der Irrenheilung unbekannt. In der einzigen Rücksicht, die Gefahren<lb/>
zu beseitigen, welche das freie Umhertreiben der Geisteskranken für<lb/>
die Gesunden und für die öffentliche Ordnung hatte, wurde ein Theil<lb/>
von ihnen theils in Hospitälern, theils in Zucht- und Arbeitshäusern,<lb/>
meist in den schlechtesten und verborgensten Räumen, zusammen-<lb/>
gesperrt. An ihre Behandlung als Kranke dachte man nicht, und<lb/>
den Zweck, sie unschädlich zu machen, führte man meist, veranlasst<lb/>
durch das Vorurtheil ihrer unmässigen Körperkraft, mit den rohesten<lb/>
Mitteln aus. Hinter dicken Balken und Eisenstangen, oft noch mit<lb/>
Ketten beladen, liess man die Unglücklichen in Jammer und Schmutz<lb/>
verkommen; unter Martern und Schlägen musste das Menschliche in<lb/>
ihnen selbst untergehen; wer einmal den Fuss über die Schwelle<lb/>
jener Tollhäuser gesetzt hatte, war als ein für immer Verlorener zu<lb/>
betrachten. Diese Schicksale trafen die Irren an manchen Orten<lb/>
noch bis in die neueste Zeit; noch im Jahr 1833 klagte Ferrus, dass<lb/>
man in einigen französischen Provinzialstädten die Irren noch in<lb/>
Käfige eingesperrt finde, und noch sieht man an einzelnen Orten<lb/>
solche massive Elephantenställe, vor denen die stupide Neugier<lb/>
steht, um den Narren zu reizen und seine Flüche zu verspotten.</p><lb/>
              <p>In die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt die Errichtung der<lb/>
ersten Anstalt, welche ausdrücklich und ausschliesslich den Heilzweck<lb/>
verfolgen sollte, St. Lucas in London, lange das einzige Beispiel des<lb/>
erwachenden menschlicheren Sinnes für die Irren. Ihr folgte später<lb/>
die Errichtung der Anstalt für geisteskranke Quäcker bei York; auf<lb/>
dem Continent war erst Pinels Wirken für die Verbesserung des<lb/>
Looses der Irren entscheidend. Angeregt von den grossen huma-<lb/>
nistischen Ideen seiner Zeit, setzte er, eben während der stürmischen<lb/>
Tage der Revolution und Anfangs nicht ohne Gefahr für seine eigene<lb/>
Existenz, dicht vor den Thoren von Paris, in Bicêtre, seine grossen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0396] Die Irren-Anstalten. immer auch den Druck misslicher Verhältnisse, die Kälte seiner Um- gebung oder gar den Spott niedrigdenkender Menschen für immer ferne zu halten! Fünftes Capitel. Die Irren-Anstalten. §. 186. Den früheren Zeiten war der im Grossen durchgeführte Zweck der Irrenheilung unbekannt. In der einzigen Rücksicht, die Gefahren zu beseitigen, welche das freie Umhertreiben der Geisteskranken für die Gesunden und für die öffentliche Ordnung hatte, wurde ein Theil von ihnen theils in Hospitälern, theils in Zucht- und Arbeitshäusern, meist in den schlechtesten und verborgensten Räumen, zusammen- gesperrt. An ihre Behandlung als Kranke dachte man nicht, und den Zweck, sie unschädlich zu machen, führte man meist, veranlasst durch das Vorurtheil ihrer unmässigen Körperkraft, mit den rohesten Mitteln aus. Hinter dicken Balken und Eisenstangen, oft noch mit Ketten beladen, liess man die Unglücklichen in Jammer und Schmutz verkommen; unter Martern und Schlägen musste das Menschliche in ihnen selbst untergehen; wer einmal den Fuss über die Schwelle jener Tollhäuser gesetzt hatte, war als ein für immer Verlorener zu betrachten. Diese Schicksale trafen die Irren an manchen Orten noch bis in die neueste Zeit; noch im Jahr 1833 klagte Ferrus, dass man in einigen französischen Provinzialstädten die Irren noch in Käfige eingesperrt finde, und noch sieht man an einzelnen Orten solche massive Elephantenställe, vor denen die stupide Neugier steht, um den Narren zu reizen und seine Flüche zu verspotten. In die Mitte des vorigen Jahrhunderts fällt die Errichtung der ersten Anstalt, welche ausdrücklich und ausschliesslich den Heilzweck verfolgen sollte, St. Lucas in London, lange das einzige Beispiel des erwachenden menschlicheren Sinnes für die Irren. Ihr folgte später die Errichtung der Anstalt für geisteskranke Quäcker bei York; auf dem Continent war erst Pinels Wirken für die Verbesserung des Looses der Irren entscheidend. Angeregt von den grossen huma- nistischen Ideen seiner Zeit, setzte er, eben während der stürmischen Tage der Revolution und Anfangs nicht ohne Gefahr für seine eigene Existenz, dicht vor den Thoren von Paris, in Bicêtre, seine grossen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/396
Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/396>, abgerufen am 29.03.2024.