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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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und eine reiche wollte er nicht. Da sprach er 'die soll meine Frau werden, die zugleich die ärmste und die reichste ist.' Als er in das Dorf kam, wo das Mädchen lebte, fragte er, wie er überall that, wer in dem Ort die reichste und ärmste wäre. Sie nannten ihm die reichste zuerst: die ärmste, sagten sie, wäre das Mädchen, das in dem kleinen Haus ganz am Ende wohnte. Die Reiche saß vor der Hausthür in vollem Putz, und als der Königssohn sich näherte, stand sie auf, gieng ihm entgegen und neigte sich vor ihm. Er sah sie an, sprach kein Wort und ritt weiter. Als er zu dem Haus der Armen kam, stand das Mädchen nicht an der Thüre, sondern saß in seinem Stübchen. Er hielt das Pferd an und sah durch das Fenster, durch das die helle Sonne schien, das Mädchen an dem Spinnrad sitzen und emsig spinnen. Es blickte auf, und als es bemerkte daß der Königssohn hereinschaute, ward es über und über roth, schlug die Augen nieder und spann weiter; ob der Faden diesmal ganz gleich ward, weiß ich nicht, aber es spann so lange bis der Königssohn wieder weggeritten war. Dann trat es ans Fenster, öffnete es und sagte 'es ist so heiß in der Stube,' aber es blickte ihm nach so lange es noch die weißen Federn an seinem Hut erkennen konnte.

Das Mädchen setzte sich wieder in seine Stube zur Arbeit und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin

'Spindel, Spindel, geh du aus,
bring den Freier in mein Haus.'

Was geschah? Die Spindel sprang ihm augenblicklich aus der Hand und zur Thüre hinaus; und als es vor Verwunderung aufstand und ihr nachblickte, so sah es daß sie lustig in das Feld hinein tanzte und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden.

und eine reiche wollte er nicht. Da sprach er ‘die soll meine Frau werden, die zugleich die ärmste und die reichste ist.’ Als er in das Dorf kam, wo das Mädchen lebte, fragte er, wie er überall that, wer in dem Ort die reichste und ärmste wäre. Sie nannten ihm die reichste zuerst: die ärmste, sagten sie, wäre das Mädchen, das in dem kleinen Haus ganz am Ende wohnte. Die Reiche saß vor der Hausthür in vollem Putz, und als der Königssohn sich näherte, stand sie auf, gieng ihm entgegen und neigte sich vor ihm. Er sah sie an, sprach kein Wort und ritt weiter. Als er zu dem Haus der Armen kam, stand das Mädchen nicht an der Thüre, sondern saß in seinem Stübchen. Er hielt das Pferd an und sah durch das Fenster, durch das die helle Sonne schien, das Mädchen an dem Spinnrad sitzen und emsig spinnen. Es blickte auf, und als es bemerkte daß der Königssohn hereinschaute, ward es über und über roth, schlug die Augen nieder und spann weiter; ob der Faden diesmal ganz gleich ward, weiß ich nicht, aber es spann so lange bis der Königssohn wieder weggeritten war. Dann trat es ans Fenster, öffnete es und sagte ‘es ist so heiß in der Stube,’ aber es blickte ihm nach so lange es noch die weißen Federn an seinem Hut erkennen konnte.

Das Mädchen setzte sich wieder in seine Stube zur Arbeit und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin

‘Spindel, Spindel, geh du aus,
bring den Freier in mein Haus.’

Was geschah? Die Spindel sprang ihm augenblicklich aus der Hand und zur Thüre hinaus; und als es vor Verwunderung aufstand und ihr nachblickte, so sah es daß sie lustig in das Feld hinein tanzte und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden.

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[408/0420] und eine reiche wollte er nicht. Da sprach er ‘die soll meine Frau werden, die zugleich die ärmste und die reichste ist.’ Als er in das Dorf kam, wo das Mädchen lebte, fragte er, wie er überall that, wer in dem Ort die reichste und ärmste wäre. Sie nannten ihm die reichste zuerst: die ärmste, sagten sie, wäre das Mädchen, das in dem kleinen Haus ganz am Ende wohnte. Die Reiche saß vor der Hausthür in vollem Putz, und als der Königssohn sich näherte, stand sie auf, gieng ihm entgegen und neigte sich vor ihm. Er sah sie an, sprach kein Wort und ritt weiter. Als er zu dem Haus der Armen kam, stand das Mädchen nicht an der Thüre, sondern saß in seinem Stübchen. Er hielt das Pferd an und sah durch das Fenster, durch das die helle Sonne schien, das Mädchen an dem Spinnrad sitzen und emsig spinnen. Es blickte auf, und als es bemerkte daß der Königssohn hereinschaute, ward es über und über roth, schlug die Augen nieder und spann weiter; ob der Faden diesmal ganz gleich ward, weiß ich nicht, aber es spann so lange bis der Königssohn wieder weggeritten war. Dann trat es ans Fenster, öffnete es und sagte ‘es ist so heiß in der Stube,’ aber es blickte ihm nach so lange es noch die weißen Federn an seinem Hut erkennen konnte. Das Mädchen setzte sich wieder in seine Stube zur Arbeit und spann weiter. Da kam ihm ein Spruch in den Sinn, den die Alte manchmal gesagt hatte, wenn es bei der Arbeit saß, und es sang so vor sich hin ‘Spindel, Spindel, geh du aus, bring den Freier in mein Haus.’ Was geschah? Die Spindel sprang ihm augenblicklich aus der Hand und zur Thüre hinaus; und als es vor Verwunderung aufstand und ihr nachblickte, so sah es daß sie lustig in das Feld hinein tanzte und einen glänzenden goldenen Faden hinter sich herzog. Nicht lange, so war sie ihm aus den Augen entschwunden.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/420>, abgerufen am 24.04.2024.