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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857.

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99.
Der Geist im Glas.

Es war einmal ein armer Holzhacker, der arbeitete vom Morgen bis in die späte Nacht. Als er sich endlich etwas Geld zusammengespart hatte, sprach er zu seinem Jungen 'du bist mein einziges Kind, ich will das Geld, das ich mit saurem Schweiß erworben habe, zu deinem Unterricht anwenden; lernst du etwas rechtschaffenes, so kannst du mich im Alter ernähren, wenn meine Glieder steif geworden sind, und ich daheim sitzen muß.' Da gieng der Junge auf eine hohe Schule und lernte fleißig, so daß ihn seine Lehrer rühmten, und blieb eine Zeit lang dort. Als er ein paar Schulen durchgelernt hatte, doch aber noch nicht in allem vollkommen war, so war das bischen Armuth, das der Vater erworben hatte, drauf gegangen, und er mußte wieder zu ihm heim kehren. 'Ach,' sprach der Vater betrübt, 'ich kann dir nichts mehr geben und kann in der theuern Zeit auch keinen Heller mehr verdienen als das tägliche Brot.' 'Lieber Vater,' antwortete der Sohn, 'macht euch darüber keine Gedanken, wenns Gottes Wille also ist, so wirds zu meinem Besten ausschlagen; ich will mich schon drein schicken.' Als der Vater hinaus in den Wald wollte, um etwas am Malterholz (am Zuhauen und Aufrichten) zu verdienen, so sprach der Sohn 'ich will mit euch gehen und euch helfen.' 'Ja, mein Sohn,' sagte der Vater, 'das sollte dir beschwerlich an kommen, du bist an harte Arbeit nicht gewöhnt, du hältst das nicht aus; ich habe auch nur eine Axt und kein Geld übrig, um noch eine zu kaufen.' 'Geht nur zum Nachbar,' antwortete der Sohn, 'der leiht euch seine Axt so lange, bis ich mir selbst eine verdient habe.'

Da borgte der Vater beim Nachbar eine Axt, und am andern

99.
Der Geist im Glas.

Es war einmal ein armer Holzhacker, der arbeitete vom Morgen bis in die späte Nacht. Als er sich endlich etwas Geld zusammengespart hatte, sprach er zu seinem Jungen ‘du bist mein einziges Kind, ich will das Geld, das ich mit saurem Schweiß erworben habe, zu deinem Unterricht anwenden; lernst du etwas rechtschaffenes, so kannst du mich im Alter ernähren, wenn meine Glieder steif geworden sind, und ich daheim sitzen muß.’ Da gieng der Junge auf eine hohe Schule und lernte fleißig, so daß ihn seine Lehrer rühmten, und blieb eine Zeit lang dort. Als er ein paar Schulen durchgelernt hatte, doch aber noch nicht in allem vollkommen war, so war das bischen Armuth, das der Vater erworben hatte, drauf gegangen, und er mußte wieder zu ihm heim kehren. ‘Ach,’ sprach der Vater betrübt, ‘ich kann dir nichts mehr geben und kann in der theuern Zeit auch keinen Heller mehr verdienen als das tägliche Brot.’ ‘Lieber Vater,’ antwortete der Sohn, ‘macht euch darüber keine Gedanken, wenns Gottes Wille also ist, so wirds zu meinem Besten ausschlagen; ich will mich schon drein schicken.’ Als der Vater hinaus in den Wald wollte, um etwas am Malterholz (am Zuhauen und Aufrichten) zu verdienen, so sprach der Sohn ‘ich will mit euch gehen und euch helfen.’ ‘Ja, mein Sohn,’ sagte der Vater, ‘das sollte dir beschwerlich an kommen, du bist an harte Arbeit nicht gewöhnt, du hältst das nicht aus; ich habe auch nur eine Axt und kein Geld übrig, um noch eine zu kaufen.’ ‘Geht nur zum Nachbar,’ antwortete der Sohn, ‘der leiht euch seine Axt so lange, bis ich mir selbst eine verdient habe.’

Da borgte der Vater beim Nachbar eine Axt, und am andern

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[72/0084] 99. Der Geist im Glas. Es war einmal ein armer Holzhacker, der arbeitete vom Morgen bis in die späte Nacht. Als er sich endlich etwas Geld zusammengespart hatte, sprach er zu seinem Jungen ‘du bist mein einziges Kind, ich will das Geld, das ich mit saurem Schweiß erworben habe, zu deinem Unterricht anwenden; lernst du etwas rechtschaffenes, so kannst du mich im Alter ernähren, wenn meine Glieder steif geworden sind, und ich daheim sitzen muß.’ Da gieng der Junge auf eine hohe Schule und lernte fleißig, so daß ihn seine Lehrer rühmten, und blieb eine Zeit lang dort. Als er ein paar Schulen durchgelernt hatte, doch aber noch nicht in allem vollkommen war, so war das bischen Armuth, das der Vater erworben hatte, drauf gegangen, und er mußte wieder zu ihm heim kehren. ‘Ach,’ sprach der Vater betrübt, ‘ich kann dir nichts mehr geben und kann in der theuern Zeit auch keinen Heller mehr verdienen als das tägliche Brot.’ ‘Lieber Vater,’ antwortete der Sohn, ‘macht euch darüber keine Gedanken, wenns Gottes Wille also ist, so wirds zu meinem Besten ausschlagen; ich will mich schon drein schicken.’ Als der Vater hinaus in den Wald wollte, um etwas am Malterholz (am Zuhauen und Aufrichten) zu verdienen, so sprach der Sohn ‘ich will mit euch gehen und euch helfen.’ ‘Ja, mein Sohn,’ sagte der Vater, ‘das sollte dir beschwerlich an kommen, du bist an harte Arbeit nicht gewöhnt, du hältst das nicht aus; ich habe auch nur eine Axt und kein Geld übrig, um noch eine zu kaufen.’ ‘Geht nur zum Nachbar,’ antwortete der Sohn, ‘der leiht euch seine Axt so lange, bis ich mir selbst eine verdient habe.’ Da borgte der Vater beim Nachbar eine Axt, und am andern

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder und Hausmärchen. 7. Aufl. Bd. 2. Göttingen, 1857, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1857/84>, abgerufen am 28.03.2024.