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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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Jen. Cod. 47. Titurel 6008. u. 4898, in welcher letzten Stelle
der bescheidene Dichter an sich selbst bezweifelt, was ihm an-
dere zusprechen.)

Daß figürliche Redensarten aller Poesie nahe liegen, fließt
aus ihrem Wesen, das man in ein Bemühen setzen kann, die
Natur sammt dem Leben in einer Figur, in einem Gleichniß
auszudrücken. Dieß Gefühl der höheren, gleichsam göttlichen
Mittel kommt auch noch in die Kunstpoesie hinüber und zeigt
sich in dem Streben der Dichter, ihr geheimnißvolles Werk in
Bild und Metapher zu treiben. Leicht erhärtet die ursprüng-
liche Frischheit und Innigkeit in unverstandenem Aeußerlichen;
von den nordischen Kenningar muß man urtheilen, daß sie
zum Theil in herrlicher Naturpoesie entsprungen, zum Theil
auch eitele Spielerei und Verworrenheit an sich tragen. Ob
nun gleich von dieser Seite unser Meistersang noch ziemlich ge-
mäßigt und die Bildersprache weit unentfalteter ist, als die
scandinavische; so ragt in ihm dennoch ein merklicher und bö-
ser Mißbrauch hervor 85).

Die oben gegebenen Exempel beweisen indessen, daß man-
che Figuren, nachdem sie im langen Gebrauch die Bedeutung
einfacher Wörter wieder erlangt, für den Meistersang characte-
ristisch gegolten haben.

II. Namen.

Jedermann weiß, daß die Namen Meistergesang und Mei-
stersinger im 16ten und 17ten Jahrhundert die von uns un-

85) Dagegen ließen sich auch viele, eben so feiner, als tiefer Bilder
aufweisen. Die Anwendung eines gegebenen Beispiels machen,
welches sonst häufig heißt: "die Folge finden" (das inde se-
quitur
) drückt Alexander recht glücklich durch: "der wilden
Rede den Kern nehmen" aus. Oder wenn Frauenlob die Rein-
heit eines Fürsten beschreiben will, wählt er folgendes lebendige
Bild: von der Schanden Traufe fiel nie Tropfe an seinen
Leib u. s. w.

Jen. Cod. 47. Titurel 6008. u. 4898, in welcher letzten Stelle
der beſcheidene Dichter an ſich ſelbſt bezweifelt, was ihm an-
dere zuſprechen.)

Daß figuͤrliche Redensarten aller Poeſie nahe liegen, fließt
aus ihrem Weſen, das man in ein Bemuͤhen ſetzen kann, die
Natur ſammt dem Leben in einer Figur, in einem Gleichniß
auszudruͤcken. Dieß Gefuͤhl der hoͤheren, gleichſam goͤttlichen
Mittel kommt auch noch in die Kunſtpoeſie hinuͤber und zeigt
ſich in dem Streben der Dichter, ihr geheimnißvolles Werk in
Bild und Metapher zu treiben. Leicht erhaͤrtet die urſpruͤng-
liche Friſchheit und Innigkeit in unverſtandenem Aeußerlichen;
von den nordiſchen Kenningar muß man urtheilen, daß ſie
zum Theil in herrlicher Naturpoeſie entſprungen, zum Theil
auch eitele Spielerei und Verworrenheit an ſich tragen. Ob
nun gleich von dieſer Seite unſer Meiſterſang noch ziemlich ge-
maͤßigt und die Bilderſprache weit unentfalteter iſt, als die
ſcandinaviſche; ſo ragt in ihm dennoch ein merklicher und boͤ-
ſer Mißbrauch hervor 85).

Die oben gegebenen Exempel beweiſen indeſſen, daß man-
che Figuren, nachdem ſie im langen Gebrauch die Bedeutung
einfacher Woͤrter wieder erlangt, fuͤr den Meiſterſang characte-
riſtiſch gegolten haben.

II. Namen.

Jedermann weiß, daß die Namen Meiſtergeſang und Mei-
ſterſinger im 16ten und 17ten Jahrhundert die von uns un-

85) Dagegen ließen ſich auch viele, eben ſo feiner, als tiefer Bilder
aufweiſen. Die Anwendung eines gegebenen Beiſpiels machen,
welches ſonſt haͤufig heißt: „die Folge finden“ (das inde se-
quitur
) druͤckt Alexander recht gluͤcklich durch: „der wilden
Rede den Kern nehmen“ aus. Oder wenn Frauenlob die Rein-
heit eines Fuͤrſten beſchreiben will, waͤhlt er folgendes lebendige
Bild: von der Schanden Traufe fiel nie Tropfe an ſeinen
Leib u. ſ. w.
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[98/0108] Jen. Cod. 47. Titurel 6008. u. 4898, in welcher letzten Stelle der beſcheidene Dichter an ſich ſelbſt bezweifelt, was ihm an- dere zuſprechen.) Daß figuͤrliche Redensarten aller Poeſie nahe liegen, fließt aus ihrem Weſen, das man in ein Bemuͤhen ſetzen kann, die Natur ſammt dem Leben in einer Figur, in einem Gleichniß auszudruͤcken. Dieß Gefuͤhl der hoͤheren, gleichſam goͤttlichen Mittel kommt auch noch in die Kunſtpoeſie hinuͤber und zeigt ſich in dem Streben der Dichter, ihr geheimnißvolles Werk in Bild und Metapher zu treiben. Leicht erhaͤrtet die urſpruͤng- liche Friſchheit und Innigkeit in unverſtandenem Aeußerlichen; von den nordiſchen Kenningar muß man urtheilen, daß ſie zum Theil in herrlicher Naturpoeſie entſprungen, zum Theil auch eitele Spielerei und Verworrenheit an ſich tragen. Ob nun gleich von dieſer Seite unſer Meiſterſang noch ziemlich ge- maͤßigt und die Bilderſprache weit unentfalteter iſt, als die ſcandinaviſche; ſo ragt in ihm dennoch ein merklicher und boͤ- ſer Mißbrauch hervor 85). Die oben gegebenen Exempel beweiſen indeſſen, daß man- che Figuren, nachdem ſie im langen Gebrauch die Bedeutung einfacher Woͤrter wieder erlangt, fuͤr den Meiſterſang characte- riſtiſch gegolten haben. II. Namen. Jedermann weiß, daß die Namen Meiſtergeſang und Mei- ſterſinger im 16ten und 17ten Jahrhundert die von uns un- 85) Dagegen ließen ſich auch viele, eben ſo feiner, als tiefer Bilder aufweiſen. Die Anwendung eines gegebenen Beiſpiels machen, welches ſonſt haͤufig heißt: „die Folge finden“ (das inde se- quitur) druͤckt Alexander recht gluͤcklich durch: „der wilden Rede den Kern nehmen“ aus. Oder wenn Frauenlob die Rein- heit eines Fuͤrſten beſchreiben will, waͤhlt er folgendes lebendige Bild: von der Schanden Traufe fiel nie Tropfe an ſeinen Leib u. ſ. w.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/108>, abgerufen am 29.03.2024.