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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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III. Niederländer.

Dennoch verdienen die Niederländer, die es im Fache lee-
rer Künstlichkeit ebenfalls sehr weit gebracht haben, eine um-
ständlichere Erwähnung, weil man aus Zufälligkeiten eine
Uebereinstimmung mit Deutschland gemuthmaßt hat, und solche
bei einem aus uns hergestammten Volk allerdings eher suchen
sollte. Schon einige Schriftsteller haben geäußert, daß die
seit Jahrhunderten in den Niederlanden gewöhnlichen Retho-
riker
, oder wie sie sich auch selber nennen, Rederyker,
mit den Meistersängern verwandt wären. Auffallender muß
das scheinen, da unsere Minnesänger einigemal das Wort
"Redereiche" und in einem Zusammenhang gebrauchen, der es
leidet, auf jene Wahrnehmung bezogen zu werden. Die deut-
lichste Stelle wäre die bei Walter 1. 105, so wie auch Gott-
fried den Veldeck sinnig und rederich nennt (Tr. 4605.) Diese
Meinung hat einigen Schein, ich habe sie aber aus folgenden
Gründen verworfen:

1) Die Biegung des Worts streitet entgegen, welches der
Analogie gemäß in der Mehrzahl rederyke und nicht rederyker
bilden mußte, da man doch letzteres allgemein sagt. Dazu
ist rederyker der spätere, ungebräuchlichere Ausdruck, für den
häufigsten: "rethoriker", einigemal: "rethrosynen" -- also ver-
dient die Herleitung der beiden Formen aus rhetoriques oder
rhetoriciens unbedingten Vorzug, obgleich man bei der ersten
Entstellung recht gut an den zufällig ähnlichen Begriff von
Wohlredend (redenryk) gedacht haben kann.

2) Ueber den Ursprung der Gesellschaft finden die holländi-
schen Literatoren 173), daß der Name erst im 15ten Jahrh.

173) Hauptschriftsteller: Schets eoner Geschiedenisse der Redery-
keren door Willem Kops
(in den Werken van de maet-
schappy der nederlandsche Letterkunde te Leyden. Tweede
deel 1774. 4. p.
212 -- 351.) und Henryk van Wyn in s.
avondstonden. Amsterd. 1800. 1. 299. 346 - 354.
III. Niederlaͤnder.

Dennoch verdienen die Niederlaͤnder, die es im Fache lee-
rer Kuͤnſtlichkeit ebenfalls ſehr weit gebracht haben, eine um-
ſtaͤndlichere Erwaͤhnung, weil man aus Zufaͤlligkeiten eine
Uebereinſtimmung mit Deutſchland gemuthmaßt hat, und ſolche
bei einem aus uns hergeſtammten Volk allerdings eher ſuchen
ſollte. Schon einige Schriftſteller haben geaͤußert, daß die
ſeit Jahrhunderten in den Niederlanden gewoͤhnlichen Retho-
riker
, oder wie ſie ſich auch ſelber nennen, Rederyker,
mit den Meiſterſaͤngern verwandt waͤren. Auffallender muß
das ſcheinen, da unſere Minneſaͤnger einigemal das Wort
„Redereiche“ und in einem Zuſammenhang gebrauchen, der es
leidet, auf jene Wahrnehmung bezogen zu werden. Die deut-
lichſte Stelle waͤre die bei Walter 1. 105, ſo wie auch Gott-
fried den Veldeck ſinnig und rederich nennt (Tr. 4605.) Dieſe
Meinung hat einigen Schein, ich habe ſie aber aus folgenden
Gruͤnden verworfen:

1) Die Biegung des Worts ſtreitet entgegen, welches der
Analogie gemaͤß in der Mehrzahl rederyke und nicht rederyker
bilden mußte, da man doch letzteres allgemein ſagt. Dazu
iſt rederyker der ſpaͤtere, ungebraͤuchlichere Ausdruck, fuͤr den
haͤufigſten: „rethoriker“, einigemal: „rethroſynen“ — alſo ver-
dient die Herleitung der beiden Formen aus rhetoriques oder
rhetoriciens unbedingten Vorzug, obgleich man bei der erſten
Entſtellung recht gut an den zufaͤllig aͤhnlichen Begriff von
Wohlredend (redenryk) gedacht haben kann.

2) Ueber den Urſprung der Geſellſchaft finden die hollaͤndi-
ſchen Literatoren 173), daß der Name erſt im 15ten Jahrh.

173) Hauptſchriftſteller: Schets eoner Geschiedenisse der Redery-
keren door Willem Kops
(in den Werken van de maet-
schappy der nederlandsche Letterkunde te Leyden. Tweede
deel 1774. 4. p.
212 — 351.) und Henryk van Wyn in ſ.
avondstonden. Amsterd. 1800. 1. 299. 346 ‒ 354.
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[156/0166] III. Niederlaͤnder. Dennoch verdienen die Niederlaͤnder, die es im Fache lee- rer Kuͤnſtlichkeit ebenfalls ſehr weit gebracht haben, eine um- ſtaͤndlichere Erwaͤhnung, weil man aus Zufaͤlligkeiten eine Uebereinſtimmung mit Deutſchland gemuthmaßt hat, und ſolche bei einem aus uns hergeſtammten Volk allerdings eher ſuchen ſollte. Schon einige Schriftſteller haben geaͤußert, daß die ſeit Jahrhunderten in den Niederlanden gewoͤhnlichen Retho- riker, oder wie ſie ſich auch ſelber nennen, Rederyker, mit den Meiſterſaͤngern verwandt waͤren. Auffallender muß das ſcheinen, da unſere Minneſaͤnger einigemal das Wort „Redereiche“ und in einem Zuſammenhang gebrauchen, der es leidet, auf jene Wahrnehmung bezogen zu werden. Die deut- lichſte Stelle waͤre die bei Walter 1. 105, ſo wie auch Gott- fried den Veldeck ſinnig und rederich nennt (Tr. 4605.) Dieſe Meinung hat einigen Schein, ich habe ſie aber aus folgenden Gruͤnden verworfen: 1) Die Biegung des Worts ſtreitet entgegen, welches der Analogie gemaͤß in der Mehrzahl rederyke und nicht rederyker bilden mußte, da man doch letzteres allgemein ſagt. Dazu iſt rederyker der ſpaͤtere, ungebraͤuchlichere Ausdruck, fuͤr den haͤufigſten: „rethoriker“, einigemal: „rethroſynen“ — alſo ver- dient die Herleitung der beiden Formen aus rhetoriques oder rhetoriciens unbedingten Vorzug, obgleich man bei der erſten Entſtellung recht gut an den zufaͤllig aͤhnlichen Begriff von Wohlredend (redenryk) gedacht haben kann. 2) Ueber den Urſprung der Geſellſchaft finden die hollaͤndi- ſchen Literatoren 173), daß der Name erſt im 15ten Jahrh. 173) Hauptſchriftſteller: Schets eoner Geschiedenisse der Redery- keren door Willem Kops (in den Werken van de maet- schappy der nederlandsche Letterkunde te Leyden. Tweede deel 1774. 4. p. 212 — 351.) und Henryk van Wyn in ſ. avondstonden. Amsterd. 1800. 1. 299. 346 ‒ 354.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/166>, abgerufen am 28.03.2024.