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Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811.

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ren schauten in dem Brunnen sich selbst und ihr Leben,
wir fühlen das nur historisch mit und nach, allein zugleich
senken wir in die Tiefe ein.

Man muß auch fragen: wer es denn übernehme,
die Poesie zu verwalten? wer sie gleichsam anzugreifen
wage, weil sie doch da ist, und den Klang zu rühren,
der in der Saite verborgen ruht? Die Poesie ist kein
Eigenthum der Dichter 2) und das zu keiner Zeit weni-
ger gewesen als in der epischen, da sie, ein Blut, den gan-
zen Leib des Volks durchdrungen. Niemand weiß von
Dichtern, geschweige daß es die Nachwelt erfahren sollte,
aber die Sänger ziehen in Haufen herum, und wem eine
tönende Stimme zu Theil geworden, oder wer in ein
treueres Gedächtniß alte Lieder und Sagen niederlegen
kann, da ihm das Licht der Augen entzogen wor-
den, der tritt hin vor König und Volk und singt für
Ehre und Gaben. Es hat auch keinen Zweifel, (so ge-
wiß dürfen wir über unbekannte Dinge urtheilen,) daß
Erbschaft und Lehre das Amt des Gesanges fortpflanzten,
weil in der Lehre die natürliche Verehrung des Alters und
in dem Stand die natürliche Erbschaft der Jugend liegt.
Beides, daß der Sänger keiner hohen Abkunft und an
keinem festen Ort gesessen ist, bringt also die Sache mit,

2) Es ist zu beachten, daß eine in sich beziehungsvolle Sage von
dem durch Schlauheit entwundenen, von der stärkeren Kunst
des Dichters aber wieder behaupteten Liedereigenthum, nirgends
von einem Volksdichter vorkommt. So findet sie sich von dem
indischen Hofsänger Kalidas und mit ächt sagenhafter Abwei-
chung von Virgilius, und wieder vom Provenzalen Arnoldo
Daniello. Moderner Nachsage, als trüber Quelle entflossen,
hier zu übergehen.

ren ſchauten in dem Brunnen ſich ſelbſt und ihr Leben,
wir fuͤhlen das nur hiſtoriſch mit und nach, allein zugleich
ſenken wir in die Tiefe ein.

Man muß auch fragen: wer es denn uͤbernehme,
die Poeſie zu verwalten? wer ſie gleichſam anzugreifen
wage, weil ſie doch da iſt, und den Klang zu ruͤhren,
der in der Saite verborgen ruht? Die Poeſie iſt kein
Eigenthum der Dichter 2) und das zu keiner Zeit weni-
ger geweſen als in der epiſchen, da ſie, ein Blut, den gan-
zen Leib des Volks durchdrungen. Niemand weiß von
Dichtern, geſchweige daß es die Nachwelt erfahren ſollte,
aber die Saͤnger ziehen in Haufen herum, und wem eine
toͤnende Stimme zu Theil geworden, oder wer in ein
treueres Gedaͤchtniß alte Lieder und Sagen niederlegen
kann, da ihm das Licht der Augen entzogen wor-
den, der tritt hin vor Koͤnig und Volk und ſingt fuͤr
Ehre und Gaben. Es hat auch keinen Zweifel, (ſo ge-
wiß duͤrfen wir uͤber unbekannte Dinge urtheilen,) daß
Erbſchaft und Lehre das Amt des Geſanges fortpflanzten,
weil in der Lehre die natuͤrliche Verehrung des Alters und
in dem Stand die natuͤrliche Erbſchaft der Jugend liegt.
Beides, daß der Saͤnger keiner hohen Abkunft und an
keinem feſten Ort geſeſſen iſt, bringt alſo die Sache mit,

2) Es iſt zu beachten, daß eine in ſich beziehungsvolle Sage von
dem durch Schlauheit entwundenen, von der ſtaͤrkeren Kunſt
des Dichters aber wieder behaupteten Liedereigenthum, nirgends
von einem Volksdichter vorkommt. So findet ſie ſich von dem
indiſchen Hofſaͤnger Kalidas und mit aͤcht ſagenhafter Abwei-
chung von Virgilius, und wieder vom Provenzalen Arnoldo
Daniello. Moderner Nachſage, als truͤber Quelle entfloſſen,
hier zu uͤbergehen.
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[7/0017] ren ſchauten in dem Brunnen ſich ſelbſt und ihr Leben, wir fuͤhlen das nur hiſtoriſch mit und nach, allein zugleich ſenken wir in die Tiefe ein. Man muß auch fragen: wer es denn uͤbernehme, die Poeſie zu verwalten? wer ſie gleichſam anzugreifen wage, weil ſie doch da iſt, und den Klang zu ruͤhren, der in der Saite verborgen ruht? Die Poeſie iſt kein Eigenthum der Dichter 2) und das zu keiner Zeit weni- ger geweſen als in der epiſchen, da ſie, ein Blut, den gan- zen Leib des Volks durchdrungen. Niemand weiß von Dichtern, geſchweige daß es die Nachwelt erfahren ſollte, aber die Saͤnger ziehen in Haufen herum, und wem eine toͤnende Stimme zu Theil geworden, oder wer in ein treueres Gedaͤchtniß alte Lieder und Sagen niederlegen kann, da ihm das Licht der Augen entzogen wor- den, der tritt hin vor Koͤnig und Volk und ſingt fuͤr Ehre und Gaben. Es hat auch keinen Zweifel, (ſo ge- wiß duͤrfen wir uͤber unbekannte Dinge urtheilen,) daß Erbſchaft und Lehre das Amt des Geſanges fortpflanzten, weil in der Lehre die natuͤrliche Verehrung des Alters und in dem Stand die natuͤrliche Erbſchaft der Jugend liegt. Beides, daß der Saͤnger keiner hohen Abkunft und an keinem feſten Ort geſeſſen iſt, bringt alſo die Sache mit, 2) Es iſt zu beachten, daß eine in ſich beziehungsvolle Sage von dem durch Schlauheit entwundenen, von der ſtaͤrkeren Kunſt des Dichters aber wieder behaupteten Liedereigenthum, nirgends von einem Volksdichter vorkommt. So findet ſie ſich von dem indiſchen Hofſaͤnger Kalidas und mit aͤcht ſagenhafter Abwei- chung von Virgilius, und wieder vom Provenzalen Arnoldo Daniello. Moderner Nachſage, als truͤber Quelle entfloſſen, hier zu uͤbergehen.

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Über den altdeutschen Meistergesang. Göttingen, 1811, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_meistergesang_1811/17>, abgerufen am 28.03.2024.