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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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VII. Dogma der Willensfreiheit.
monistischen Naturforscher des vorigen Jahrhunderts, Allen
voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf
Grund ihrer einheitlichen mechanischen Weltanschauung.

Der gewaltige Kampf zwischen den Deterministen und
Indeterministen, zwischen den Gegnern und den Anhängern
der Willensfreiheit, ist heute, nach mehr als zwei Jahrtausenden,
endgültig zu Gunsten der ersteren entschieden. Der menschliche
Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Thiere,
von welchem er sich nur dem Grade, nicht der Art nach unter-
scheidet. Während noch im vorigen Jahrhundert das Dogma
von der Willensfreiheit wesentlich mit allgemeinen, philosophischen
und kosmologischen Gründen bestritten wurde, hat uns dagegen
unser 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu dessen definitiver
Widerlegung geschenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem
Arsenal der vergleichenden Physiologie und Ent-
wickelungsgeschichte
verdanken. Wir wissen jetzt, daß jeder
Willens-Akt ebenso durch die Organisation des wollenden Indi-
viduums bestimmt und ebenso von den jeweiligen Bedingungen
der umgebenden Außenwelt abhängig ist wie jede andere Seelen-
thätigkeit. Der Charakter des Strebens ist von vornherein
durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der
Entschluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die An-
passung
an die momentanen Umstände gegeben, wobei das
stärkste Motiv den Ausschlag giebt, entsprechend den Gesetzen,
welche die Statik der Gemüthsbewegungen bestimmen. Die
Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des
Willens beim Kinde verstehen, die Phylogenie aber die histo-
rische Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unserer
Vertebraten-Ahnen.



VII. Dogma der Willensfreiheit.
moniſtiſchen Naturforſcher des vorigen Jahrhunderts, Allen
voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf
Grund ihrer einheitlichen mechaniſchen Weltanſchauung.

Der gewaltige Kampf zwiſchen den Determiniſten und
Indeterminiſten, zwiſchen den Gegnern und den Anhängern
der Willensfreiheit, iſt heute, nach mehr als zwei Jahrtauſenden,
endgültig zu Gunſten der erſteren entſchieden. Der menſchliche
Wille iſt ebenſo wenig frei als derjenige der höheren Thiere,
von welchem er ſich nur dem Grade, nicht der Art nach unter-
ſcheidet. Während noch im vorigen Jahrhundert das Dogma
von der Willensfreiheit weſentlich mit allgemeinen, philoſophiſchen
und kosmologiſchen Gründen beſtritten wurde, hat uns dagegen
unſer 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu deſſen definitiver
Widerlegung geſchenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem
Arſenal der vergleichenden Phyſiologie und Ent-
wickelungsgeſchichte
verdanken. Wir wiſſen jetzt, daß jeder
Willens-Akt ebenſo durch die Organiſation des wollenden Indi-
viduums beſtimmt und ebenſo von den jeweiligen Bedingungen
der umgebenden Außenwelt abhängig iſt wie jede andere Seelen-
thätigkeit. Der Charakter des Strebens iſt von vornherein
durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der
Entſchluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die An-
paſſung
an die momentanen Umſtände gegeben, wobei das
ſtärkſte Motiv den Ausſchlag giebt, entſprechend den Geſetzen,
welche die Statik der Gemüthsbewegungen beſtimmen. Die
Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des
Willens beim Kinde verſtehen, die Phylogenie aber die hiſto-
riſche Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unſerer
Vertebraten-Ahnen.



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[151/0167] VII. Dogma der Willensfreiheit. moniſtiſchen Naturforſcher des vorigen Jahrhunderts, Allen voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf Grund ihrer einheitlichen mechaniſchen Weltanſchauung. Der gewaltige Kampf zwiſchen den Determiniſten und Indeterminiſten, zwiſchen den Gegnern und den Anhängern der Willensfreiheit, iſt heute, nach mehr als zwei Jahrtauſenden, endgültig zu Gunſten der erſteren entſchieden. Der menſchliche Wille iſt ebenſo wenig frei als derjenige der höheren Thiere, von welchem er ſich nur dem Grade, nicht der Art nach unter- ſcheidet. Während noch im vorigen Jahrhundert das Dogma von der Willensfreiheit weſentlich mit allgemeinen, philoſophiſchen und kosmologiſchen Gründen beſtritten wurde, hat uns dagegen unſer 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu deſſen definitiver Widerlegung geſchenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem Arſenal der vergleichenden Phyſiologie und Ent- wickelungsgeſchichte verdanken. Wir wiſſen jetzt, daß jeder Willens-Akt ebenſo durch die Organiſation des wollenden Indi- viduums beſtimmt und ebenſo von den jeweiligen Bedingungen der umgebenden Außenwelt abhängig iſt wie jede andere Seelen- thätigkeit. Der Charakter des Strebens iſt von vornherein durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der Entſchluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die An- paſſung an die momentanen Umſtände gegeben, wobei das ſtärkſte Motiv den Ausſchlag giebt, entſprechend den Geſetzen, welche die Statik der Gemüthsbewegungen beſtimmen. Die Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des Willens beim Kinde verſtehen, die Phylogenie aber die hiſto- riſche Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unſerer Vertebraten-Ahnen.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/167>, abgerufen am 28.03.2024.