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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Entstehung der Seele. VIII.
sachen der vergleichenden Psychologie, sowie mit der Organisation
und Funktion des Gehirns meistens nicht bekannt. Außerdem
aber betrafen ihre Beobachtungen größtentheils erst die Kinder in
schulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden
Lebensjahren. Die merkwürdigen Erscheinungen, welche die indi-
viduelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebens-
jahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig
bewundern, wurden fast niemals Gegenstand eingehender wissen-
schaftlicher Studien. Hier hat erst Wilhelm Preyer (1881)
Bahn gebrochen, in seiner interessanten Schrift über "Die Seele
des Kindes; Beobachtungen über die geistige Entwickelung des
Menschen in den ersten Lebensjahren". Indessen müssen wir, um
volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die
erste Entstehung der Seele im befruchteten Ei.

Entstehung der individuellen Seele. Der Ursprung und
die erste Entstehung des menschlichen Individuums -- ebenso
unsers Körpers wie unserer Seele -- galt noch im Anfange des
19. Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings
hatte der große Caspar Friedrich Wolff schon 1759 in seiner
Theoria generationis das wahre Wesen der embryonalen Entwicke-
lung aufgedeckt und an der sicheren Hand kritischer Beobachtung
gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem einfachen
Ei eine wahre Epigenesis, d. h. eine Reihe der merkwürdigsten
Neubildungs-Prozesse stattfinde *). Allein die damalige Physio-
logie, an ihrer Spitze der berühmte Albert Haller, lehnte
diese empirischen, unmittelbar mikroskopisch zu demonstriren-
den Erkenntnisse rundweg ab und hielt an dem hergebrachten
Dogma der embryonalen Präformation fest. Nach diesem
nahm man an, daß im menschlichen Ei -- ebenso wie im Ei
aller Thiere -- der Organismus mit allen seinen Theilen vor-

*) E. Haeckel, Anthropogenie. Vierte Auflage 1891. S. 23-38.

Entſtehung der Seele. VIII.
ſachen der vergleichenden Pſychologie, ſowie mit der Organiſation
und Funktion des Gehirns meiſtens nicht bekannt. Außerdem
aber betrafen ihre Beobachtungen größtentheils erſt die Kinder in
ſchulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden
Lebensjahren. Die merkwürdigen Erſcheinungen, welche die indi-
viduelle Pſychogenie des Kindes gerade in den erſten Lebens-
jahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig
bewundern, wurden faſt niemals Gegenſtand eingehender wiſſen-
ſchaftlicher Studien. Hier hat erſt Wilhelm Preyer (1881)
Bahn gebrochen, in ſeiner intereſſanten Schrift über „Die Seele
des Kindes; Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des
Menſchen in den erſten Lebensjahren“. Indeſſen müſſen wir, um
volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die
erſte Entſtehung der Seele im befruchteten Ei.

Entſtehung der individuellen Seele. Der Urſprung und
die erſte Entſtehung des menſchlichen Individuums — ebenſo
unſers Körpers wie unſerer Seele — galt noch im Anfange des
19. Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings
hatte der große Caſpar Friedrich Wolff ſchon 1759 in ſeiner
Theoria generationiſ das wahre Weſen der embryonalen Entwicke-
lung aufgedeckt und an der ſicheren Hand kritiſcher Beobachtung
gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem einfachen
Ei eine wahre Epigeneſis, d. h. eine Reihe der merkwürdigſten
Neubildungs-Prozeſſe ſtattfinde *). Allein die damalige Phyſio-
logie, an ihrer Spitze der berühmte Albert Haller, lehnte
dieſe empiriſchen, unmittelbar mikroſkopiſch zu demonſtriren-
den Erkenntniſſe rundweg ab und hielt an dem hergebrachten
Dogma der embryonalen Präformation feſt. Nach dieſem
nahm man an, daß im menſchlichen Ei — ebenſo wie im Ei
aller Thiere — der Organismus mit allen ſeinen Theilen vor-

*) E. Haeckel, Anthropogenie. Vierte Auflage 1891. S. 23-38.
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[156/0172] Entſtehung der Seele. VIII. ſachen der vergleichenden Pſychologie, ſowie mit der Organiſation und Funktion des Gehirns meiſtens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre Beobachtungen größtentheils erſt die Kinder in ſchulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden Lebensjahren. Die merkwürdigen Erſcheinungen, welche die indi- viduelle Pſychogenie des Kindes gerade in den erſten Lebens- jahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern, wurden faſt niemals Gegenſtand eingehender wiſſen- ſchaftlicher Studien. Hier hat erſt Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in ſeiner intereſſanten Schrift über „Die Seele des Kindes; Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des Menſchen in den erſten Lebensjahren“. Indeſſen müſſen wir, um volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erſte Entſtehung der Seele im befruchteten Ei. Entſtehung der individuellen Seele. Der Urſprung und die erſte Entſtehung des menſchlichen Individuums — ebenſo unſers Körpers wie unſerer Seele — galt noch im Anfange des 19. Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings hatte der große Caſpar Friedrich Wolff ſchon 1759 in ſeiner Theoria generationiſ das wahre Weſen der embryonalen Entwicke- lung aufgedeckt und an der ſicheren Hand kritiſcher Beobachtung gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem einfachen Ei eine wahre Epigeneſis, d. h. eine Reihe der merkwürdigſten Neubildungs-Prozeſſe ſtattfinde *). Allein die damalige Phyſio- logie, an ihrer Spitze der berühmte Albert Haller, lehnte dieſe empiriſchen, unmittelbar mikroſkopiſch zu demonſtriren- den Erkenntniſſe rundweg ab und hielt an dem hergebrachten Dogma der embryonalen Präformation feſt. Nach dieſem nahm man an, daß im menſchlichen Ei — ebenſo wie im Ei aller Thiere — der Organismus mit allen ſeinen Theilen vor- *) E. Haeckel, Anthropogenie. Vierte Auflage 1891. S. 23-38.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/172>, abgerufen am 28.03.2024.