Die Descendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthro- pologie hat uns überzeugt, daß unser menschlicher Organismus aus einer langen Reihe thierischer Vorfahren durch allmähliche Umbildung im Laufe vieler Jahr-Millionen langsam und stufen- weise sich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des Menschen von seinen übrigen Lebensthätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der Ueberzeugung von der einheitlichen Ent- wickelung unseres ganzen Körpers und Geistes gelangt sind, so ergiebt sich auch für die moderne monistische Psychologie die Aufgabe, die historische Entwickelung der Menschenseele aus der Thierseele stufenweise zu verfolgen. Die Lösung dieser Auf- gabe versucht unsere "Stammesgeschichte der Seele" oder die Phylogenie der Psyche; man kann sie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogene- tischen Psychologie oder -- im Gegensatze zur bion- tischen (individuellen) -- als phyletische Psychogenie bezeichnen. Obgleich diese neue Wissenschaft noch kaum ernstlich in Angriff genommen ist, obgleich selbst ihre Existenz-Berechtigung von den meisten Fach-Psychologen bestritten wird, müssen wir für sie dennoch die allerhöchste Wichtigkeit und das größte In- teresse in Anspruch nehmen. Denn nach unserer festen Ueber- zeugung ist sie vor Allem berufen, uns das große "Welträthsel" vom Wesen und der Entstehung unserer Seele zu lösen.
Die Deſcendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthro- pologie hat uns überzeugt, daß unſer menſchlicher Organismus aus einer langen Reihe thieriſcher Vorfahren durch allmähliche Umbildung im Laufe vieler Jahr-Millionen langſam und ſtufen- weiſe ſich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des Menſchen von ſeinen übrigen Lebensthätigkeiten nicht trennen können, vielmehr zu der Ueberzeugung von der einheitlichen Ent- wickelung unſeres ganzen Körpers und Geiſtes gelangt ſind, ſo ergiebt ſich auch für die moderne moniſtiſche Pſychologie die Aufgabe, die hiſtoriſche Entwickelung der Menſchenſeele aus der Thierſeele ſtufenweiſe zu verfolgen. Die Löſung dieſer Auf- gabe verſucht unſere „Stammesgeſchichte der Seele“ oder die Phylogenie der Pſyche; man kann ſie auch, als Zweig der allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogene- tiſchen Pſychologie oder — im Gegenſatze zur bion- tiſchen (individuellen) — als phyletiſche Pſychogenie bezeichnen. Obgleich dieſe neue Wiſſenſchaft noch kaum ernſtlich in Angriff genommen iſt, obgleich ſelbſt ihre Exiſtenz-Berechtigung von den meiſten Fach-Pſychologen beſtritten wird, müſſen wir für ſie dennoch die allerhöchſte Wichtigkeit und das größte In- tereſſe in Anſpruch nehmen. Denn nach unſerer feſten Ueber- zeugung iſt ſie vor Allem berufen, uns das große „Welträthſel“ vom Weſen und der Entſtehung unſerer Seele zu löſen.
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Die Deſcendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthro-
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Umbildung im Laufe vieler Jahr-Millionen langſam und ſtufen-
weiſe ſich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des
Menſchen von ſeinen übrigen Lebensthätigkeiten nicht trennen
können, vielmehr zu der Ueberzeugung von der einheitlichen Ent-
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ergiebt ſich auch für die moderne moniſtiſche Pſychologie
die Aufgabe, die hiſtoriſche Entwickelung der Menſchenſeele aus
der Thierſeele ſtufenweiſe zu verfolgen. Die Löſung dieſer Auf-
gabe verſucht unſere „Stammesgeſchichte der Seele“ oder die
Phylogenie der Pſyche; man kann ſie auch, als Zweig der
allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogene-
tiſchen Pſychologie oder — im Gegenſatze zur bion-
tiſchen (individuellen) — als phyletiſche Pſychogenie
bezeichnen. Obgleich dieſe neue Wiſſenſchaft noch kaum ernſtlich
in Angriff genommen iſt, obgleich ſelbſt ihre Exiſtenz-Berechtigung
von den meiſten Fach-Pſychologen beſtritten wird, müſſen wir
für ſie dennoch die allerhöchſte Wichtigkeit und das größte In-
tereſſe in Anſpruch nehmen. Denn nach unſerer feſten Ueber-
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [173]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/189>, abgerufen am 23.04.2024.
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