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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Fortschritte der modernen Naturkunde. I.
Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geschehen und
durch Gewinnung einer klaren, fest darauf gegründeten, natur-
gemäßen Weltanschauung
.

Fortschritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den
unvollkommenen Zustand der Natur-Erkenntniß im Anfang des
19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden
Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem Sachkundigen der
Fortschritt innerhalb desselben erstaunlich groß erscheinen. Jeder
einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, daß er
innerhalb unsers Jahrhunderts -- und besonders in dessen zweiter
Hälfte -- extensive und intensive Gewinne von größter Trag-
weite erzielt habe. In der mikroskopischen Kenntniß des Klein-
sten, wie in der teleskopischen Erforschung des Größten haben
wir jetzt unschätzbare Einsichten gewonnen, die vor hundert Jahren
undenkbar erschienen. Die verbesserten Methoden der mikrosko-
pischen und biologischen Untersuchungen haben uns nicht nur
überall im Reiche der einzelligen Protisten eine "unsichtbare
Lebenswelt" voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, son-
dern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinsamen "Ele-
mentar-Organismus" kennen gelehrt, aus dessen socialen Zell-
verbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen
und Thiere ebenso wie der des Menschen zusammengesetzt ist.
Diese anatomischen Kenntnisse sind von größter Tragweite; sie
werden ergänzt durch den embryologischen Nachweis, daß jeder
höhere vielzellige Organismus sich aus einer einzigen einfachen
Zelle entwickelt, der "befruchteten Eizelle". Die bedeutungsvolle,
hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erst das wahre
Verständniß für die physikalischen und chemischen ebenso wie für
die psychologischen Processe des Lebens eröffnet, jene geheimniß-
vollen Erscheinungen, für deren Erklärung man früher eine über-
natürliche "Lebenskraft" oder ein "unsterbliches Seelenwesen"
annahm. Auch das eigentliche Wesen der Krankheit ist durch

Fortſchritte der modernen Naturkunde. I.
Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geſchehen und
durch Gewinnung einer klaren, feſt darauf gegründeten, natur-
gemäßen Weltanſchauung
.

Fortſchritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den
unvollkommenen Zuſtand der Natur-Erkenntniß im Anfang des
19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden
Höhe an deſſen Schluſſe vergleichen, ſo muß jedem Sachkundigen der
Fortſchritt innerhalb desſelben erſtaunlich groß erſcheinen. Jeder
einzelne Zweig der Naturwiſſenſchaft darf ſich rühmen, daß er
innerhalb unſers Jahrhunderts — und beſonders in deſſen zweiter
Hälfte — extenſive und intenſive Gewinne von größter Trag-
weite erzielt habe. In der mikroſkopiſchen Kenntniß des Klein-
ſten, wie in der teleſkopiſchen Erforſchung des Größten haben
wir jetzt unſchätzbare Einſichten gewonnen, die vor hundert Jahren
undenkbar erſchienen. Die verbeſſerten Methoden der mikroſko-
piſchen und biologiſchen Unterſuchungen haben uns nicht nur
überall im Reiche der einzelligen Protiſten eine „unſichtbare
Lebenswelt“ voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, ſon-
dern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinſamen „Ele-
mentar-Organismus“ kennen gelehrt, aus deſſen ſocialen Zell-
verbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen
und Thiere ebenſo wie der des Menſchen zuſammengeſetzt iſt.
Dieſe anatomiſchen Kenntniſſe ſind von größter Tragweite; ſie
werden ergänzt durch den embryologiſchen Nachweis, daß jeder
höhere vielzellige Organismus ſich aus einer einzigen einfachen
Zelle entwickelt, der „befruchteten Eizelle“. Die bedeutungsvolle,
hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erſt das wahre
Verſtändniß für die phyſikaliſchen und chemiſchen ebenſo wie für
die pſychologiſchen Proceſſe des Lebens eröffnet, jene geheimniß-
vollen Erſcheinungen, für deren Erklärung man früher eine über-
natürliche „Lebenskraft“ oder ein „unſterbliches Seelenweſen“
annahm. Auch das eigentliche Weſen der Krankheit iſt durch

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[4/0020] Fortſchritte der modernen Naturkunde. I. Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geſchehen und durch Gewinnung einer klaren, feſt darauf gegründeten, natur- gemäßen Weltanſchauung. Fortſchritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den unvollkommenen Zuſtand der Natur-Erkenntniß im Anfang des 19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an deſſen Schluſſe vergleichen, ſo muß jedem Sachkundigen der Fortſchritt innerhalb desſelben erſtaunlich groß erſcheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwiſſenſchaft darf ſich rühmen, daß er innerhalb unſers Jahrhunderts — und beſonders in deſſen zweiter Hälfte — extenſive und intenſive Gewinne von größter Trag- weite erzielt habe. In der mikroſkopiſchen Kenntniß des Klein- ſten, wie in der teleſkopiſchen Erforſchung des Größten haben wir jetzt unſchätzbare Einſichten gewonnen, die vor hundert Jahren undenkbar erſchienen. Die verbeſſerten Methoden der mikroſko- piſchen und biologiſchen Unterſuchungen haben uns nicht nur überall im Reiche der einzelligen Protiſten eine „unſichtbare Lebenswelt“ voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, ſon- dern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinſamen „Ele- mentar-Organismus“ kennen gelehrt, aus deſſen ſocialen Zell- verbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Thiere ebenſo wie der des Menſchen zuſammengeſetzt iſt. Dieſe anatomiſchen Kenntniſſe ſind von größter Tragweite; ſie werden ergänzt durch den embryologiſchen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus ſich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der „befruchteten Eizelle“. Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erſt das wahre Verſtändniß für die phyſikaliſchen und chemiſchen ebenſo wie für die pſychologiſchen Proceſſe des Lebens eröffnet, jene geheimniß- vollen Erſcheinungen, für deren Erklärung man früher eine über- natürliche „Lebenskraft“ oder ein „unſterbliches Seelenweſen“ annahm. Auch das eigentliche Weſen der Krankheit iſt durch

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/20>, abgerufen am 19.04.2024.