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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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I. Zustand der modernen Schule.
Kenntniß der Staatsbürger auf eine bessere Stufe hebt. Dabei
kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob
Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische
Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen
Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich
sein? soll er theokratisch durch unvernünftige Glaubenssätze
und klerikale Willkür, oder soll er nomokratisch durch ver-
nünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Haupt-
aufgabe ist, unsere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben
befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch
eine zeitgemäße Schul-Reform geschehen.

Unsere Schule. Ebenso wie unsere Rechtspflege und Staats-
ordnung, entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht
den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des
19. Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die Natur-
wissenschaft
, die alle anderen Wissenschaften so weit über-
flügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle sogenannten
Geisteswissenschaften in sich aufgenommen hat, wird in unseren
Schulen immer noch als Nebensache behandelt oder als Aschen-
brödel in die Ecke gestellt. Dagegen erscheint unseren meisten
Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrsamkeit,
die aus den Klosterschulen des Mittelalters übernommen ist; im
Vordergrunde steht der grammatikalische Sport und die zeit-
raubende "gründliche Kenntniß" der klassischen Sprachen, sowie
der äußerlichen Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste
Gegenstand der praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und
an ihre Stelle die kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll
dem Wissen vorangehen; nicht jener wissenschaftliche Glaube,
welcher uns zu einer monistischen Religion führt, sondern jener
unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunstalteten
Christenthums bildet. Während die großartigen Erkenntnisse der
modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie

I. Zuſtand der modernen Schule.
Kenntniß der Staatsbürger auf eine beſſere Stufe hebt. Dabei
kommt es gar nicht auf die beſondere Staatsform an. Ob
Monarchie oder Republik, ob ariſtokratiſche oder demokratiſche
Verfaſſung, das ſind untergeordnete Fragen gegenüber der großen
Hauptfrage: Soll der moderne Kulturſtaat geiſtlich oder weltlich
ſein? ſoll er theokratiſch durch unvernünftige Glaubensſätze
und klerikale Willkür, oder ſoll er nomokratiſch durch ver-
nünftige Geſetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Haupt-
aufgabe iſt, unſere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben
befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch
eine zeitgemäße Schul-Reform geſchehen.

Unſere Schule. Ebenſo wie unſere Rechtspflege und Staats-
ordnung, entſpricht auch unſere Jugenderziehung durchaus nicht
den Anforderungen, welche die wiſſenſchaftlichen Fortſchritte des
19. Jahrhunderts an die moderne Bildung ſtellen. Die Natur-
wiſſenſchaft
, die alle anderen Wiſſenſchaften ſo weit über-
flügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle ſogenannten
Geiſteswiſſenſchaften in ſich aufgenommen hat, wird in unſeren
Schulen immer noch als Nebenſache behandelt oder als Aſchen-
brödel in die Ecke geſtellt. Dagegen erſcheint unſeren meiſten
Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrſamkeit,
die aus den Kloſterſchulen des Mittelalters übernommen iſt; im
Vordergrunde ſteht der grammatikaliſche Sport und die zeit-
raubende „gründliche Kenntniß“ der klaſſiſchen Sprachen, ſowie
der äußerlichen Völkergeſchichte. Die Sittenlehre, der wichtigſte
Gegenſtand der praktiſchen Philoſophie, wird vernachläſſigt und
an ihre Stelle die kirchliche Konfeſſion geſetzt. Der Glaube ſoll
dem Wiſſen vorangehen; nicht jener wiſſenſchaftliche Glaube,
welcher uns zu einer moniſtiſchen Religion führt, ſondern jener
unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunſtalteten
Chriſtenthums bildet. Während die großartigen Erkenntniſſe der
modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie

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[11/0027] I. Zuſtand der modernen Schule. Kenntniß der Staatsbürger auf eine beſſere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die beſondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob ariſtokratiſche oder demokratiſche Verfaſſung, das ſind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturſtaat geiſtlich oder weltlich ſein? ſoll er theokratiſch durch unvernünftige Glaubensſätze und klerikale Willkür, oder ſoll er nomokratiſch durch ver- nünftige Geſetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Haupt- aufgabe iſt, unſere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch eine zeitgemäße Schul-Reform geſchehen. Unſere Schule. Ebenſo wie unſere Rechtspflege und Staats- ordnung, entſpricht auch unſere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wiſſenſchaftlichen Fortſchritte des 19. Jahrhunderts an die moderne Bildung ſtellen. Die Natur- wiſſenſchaft, die alle anderen Wiſſenſchaften ſo weit über- flügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle ſogenannten Geiſteswiſſenſchaften in ſich aufgenommen hat, wird in unſeren Schulen immer noch als Nebenſache behandelt oder als Aſchen- brödel in die Ecke geſtellt. Dagegen erſcheint unſeren meiſten Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrſamkeit, die aus den Kloſterſchulen des Mittelalters übernommen iſt; im Vordergrunde ſteht der grammatikaliſche Sport und die zeit- raubende „gründliche Kenntniß“ der klaſſiſchen Sprachen, ſowie der äußerlichen Völkergeſchichte. Die Sittenlehre, der wichtigſte Gegenſtand der praktiſchen Philoſophie, wird vernachläſſigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfeſſion geſetzt. Der Glaube ſoll dem Wiſſen vorangehen; nicht jener wiſſenſchaftliche Glaube, welcher uns zu einer moniſtiſchen Religion führt, ſondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunſtalteten Chriſtenthums bildet. Während die großartigen Erkenntniſſe der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/27>, abgerufen am 24.04.2024.