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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Entstehung der Sinnesorgane. XVI.
des centralen, die ersteren hingegen Theile des peripheren
Nervensystems, jenes wichtigsten und höchstentwickelten
Organ-Systems der höheren Thiere, welches einzig und allein
deren gesammte Seelenthätigkeit vermittelt.

Sinnesorgane (Sensilla oder Aesthetes). Die Sinnes-
thätigkeit des Menschen, welche der erste Ausgangspunkt aller
Erkenntniß ist, hat sich langsam und allmählich aus derjenigen
der nächstverwandten Säugethiere, der Primaten, entwickelt. Die
Organe derselben sind in dieser höchstentwickelten Thierklasse
überall von wesentlich gleichem Bau, und ihre Funktion erfolgt
überall nach denselben physikalischen und chemischen Gesetzen.
Sie haben sich allenthalben in derselben Weise historisch ent-
wickelt. Wie bei allen anderen Thieren so sind auch bei den
Mammalien alle Sensillen ursprünglich Theile der Hautdecke,
und die empfindlichen Zellen der Oberhaut (Epidermis) sind
die Ureltern aller der verschiedenen Sinnesorgane, welche durch
Anpassung an verschiedene Reize (Licht, Wärme, Schall, Chemo-
pathos) ihre specifische Energie erlangt haben. Sowohl die
Stäbchenzellen der Retina in unserem Auge und die Hörzellen
in der Schnecke unseres Ohres, als auch die Riechzellen in der
Nase und die Schmeckzellen auf unserer Zunge stammen ursprüng-
lich von jenen einfachen indifferenten Zellen der Oberhaut ab,
welche die ganze Oberfläche unseres Körpers überziehen. Diese
bedeutungsvolle Thatsache wird durch die unmittelbare Beobachtung
am Embryo des Menschen ebenso wie aller anderen Thiere direkt
bewiesen. Aus dieser ontogenetischen Thatsache folgt aber nach
dem biogenetischen Grundgesetze mit Sicherheit der folgenschwere
phylogenetische Schluß, daß auch in der langen Stammesgeschichte
unserer Vorfahren die höheren Sinnesorgane mit ihren speciellen
Energien ursprünglich aus der Oberhaut niederer Thiere ent-
standen sind, aus einer einfachen Zellenschicht, die noch keine
solchen differenzirten Sensillen enthielt.

Entſtehung der Sinnesorgane. XVI.
des centralen, die erſteren hingegen Theile des peripheren
Nervenſyſtems, jenes wichtigſten und höchſtentwickelten
Organ-Syſtems der höheren Thiere, welches einzig und allein
deren geſammte Seelenthätigkeit vermittelt.

Sinnesorgane (Senſilla oder Aeſtheteſ). Die Sinnes-
thätigkeit des Menſchen, welche der erſte Ausgangspunkt aller
Erkenntniß iſt, hat ſich langſam und allmählich aus derjenigen
der nächſtverwandten Säugethiere, der Primaten, entwickelt. Die
Organe derſelben ſind in dieſer höchſtentwickelten Thierklaſſe
überall von weſentlich gleichem Bau, und ihre Funktion erfolgt
überall nach denſelben phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen.
Sie haben ſich allenthalben in derſelben Weiſe hiſtoriſch ent-
wickelt. Wie bei allen anderen Thieren ſo ſind auch bei den
Mammalien alle Senſillen urſprünglich Theile der Hautdecke,
und die empfindlichen Zellen der Oberhaut (Epidermiſ) ſind
die Ureltern aller der verſchiedenen Sinnesorgane, welche durch
Anpaſſung an verſchiedene Reize (Licht, Wärme, Schall, Chemo-
pathos) ihre ſpecifiſche Energie erlangt haben. Sowohl die
Stäbchenzellen der Retina in unſerem Auge und die Hörzellen
in der Schnecke unſeres Ohres, als auch die Riechzellen in der
Naſe und die Schmeckzellen auf unſerer Zunge ſtammen urſprüng-
lich von jenen einfachen indifferenten Zellen der Oberhaut ab,
welche die ganze Oberfläche unſeres Körpers überziehen. Dieſe
bedeutungsvolle Thatſache wird durch die unmittelbare Beobachtung
am Embryo des Menſchen ebenſo wie aller anderen Thiere direkt
bewieſen. Aus dieſer ontogenetiſchen Thatſache folgt aber nach
dem biogenetiſchen Grundgeſetze mit Sicherheit der folgenſchwere
phylogenetiſche Schluß, daß auch in der langen Stammesgeſchichte
unſerer Vorfahren die höheren Sinnesorgane mit ihren ſpeciellen
Energien urſprünglich aus der Oberhaut niederer Thiere ent-
ſtanden ſind, aus einer einfachen Zellenſchicht, die noch keine
ſolchen differenzirten Senſillen enthielt.

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[340/0356] Entſtehung der Sinnesorgane. XVI. des centralen, die erſteren hingegen Theile des peripheren Nervenſyſtems, jenes wichtigſten und höchſtentwickelten Organ-Syſtems der höheren Thiere, welches einzig und allein deren geſammte Seelenthätigkeit vermittelt. Sinnesorgane (Senſilla oder Aeſtheteſ). Die Sinnes- thätigkeit des Menſchen, welche der erſte Ausgangspunkt aller Erkenntniß iſt, hat ſich langſam und allmählich aus derjenigen der nächſtverwandten Säugethiere, der Primaten, entwickelt. Die Organe derſelben ſind in dieſer höchſtentwickelten Thierklaſſe überall von weſentlich gleichem Bau, und ihre Funktion erfolgt überall nach denſelben phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen. Sie haben ſich allenthalben in derſelben Weiſe hiſtoriſch ent- wickelt. Wie bei allen anderen Thieren ſo ſind auch bei den Mammalien alle Senſillen urſprünglich Theile der Hautdecke, und die empfindlichen Zellen der Oberhaut (Epidermiſ) ſind die Ureltern aller der verſchiedenen Sinnesorgane, welche durch Anpaſſung an verſchiedene Reize (Licht, Wärme, Schall, Chemo- pathos) ihre ſpecifiſche Energie erlangt haben. Sowohl die Stäbchenzellen der Retina in unſerem Auge und die Hörzellen in der Schnecke unſeres Ohres, als auch die Riechzellen in der Naſe und die Schmeckzellen auf unſerer Zunge ſtammen urſprüng- lich von jenen einfachen indifferenten Zellen der Oberhaut ab, welche die ganze Oberfläche unſeres Körpers überziehen. Dieſe bedeutungsvolle Thatſache wird durch die unmittelbare Beobachtung am Embryo des Menſchen ebenſo wie aller anderen Thiere direkt bewieſen. Aus dieſer ontogenetiſchen Thatſache folgt aber nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze mit Sicherheit der folgenſchwere phylogenetiſche Schluß, daß auch in der langen Stammesgeſchichte unſerer Vorfahren die höheren Sinnesorgane mit ihren ſpeciellen Energien urſprünglich aus der Oberhaut niederer Thiere ent- ſtanden ſind, aus einer einfachen Zellenſchicht, die noch keine ſolchen differenzirten Senſillen enthielt.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/356>, abgerufen am 25.04.2024.