Der jüngste unter den großen Zweigen am lebendigen Baume der Biologie ist diejenige Naturwissenschaft, welche wir Stammesgeschichte oder Phylogenie nennen. Sie hat sich noch weit später und unter viel größeren Schwierigkeiten entwickelt, als ihre natürliche Schwester, die Keimesgeschichte oder Ontogenie. Diese letztere hatte zur Aufgabe die Erkenntniß der geheimnißvollen Vorgänge, durch welche sich die organischen Individuen, die Einzelwesen der Thiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeschichte hingegen hat die viel dunklere und schwierigere Frage zu beantworten: "Wie sind die organischen Species entstanden, die einzelnen Arten der Thiere und Pflanzen?"
Die Ontogenie (sowohl Embryologie als Metamorphik) konnte zur Lösung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächst un- mittelbar den empirischen Weg der Beobachtung betreten; sie brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die sicht- baren Umbildungen zu verfolgen, welche der organische Keim innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei erfährt. Viel schwieriger war von vornherein die entfernt liegende Aufgabe der Phylogenie; denn die langsamen Processe der allmählichen Umbildung, welche die Entstehung der Thier- und Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen sich unmerklich im Verlaufe von Jahrtausenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beob-
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Der jüngſte unter den großen Zweigen am lebendigen Baume der Biologie iſt diejenige Naturwiſſenſchaft, welche wir Stammesgeſchichte oder Phylogenie nennen. Sie hat ſich noch weit ſpäter und unter viel größeren Schwierigkeiten entwickelt, als ihre natürliche Schweſter, die Keimesgeſchichte oder Ontogenie. Dieſe letztere hatte zur Aufgabe die Erkenntniß der geheimnißvollen Vorgänge, durch welche ſich die organiſchen Individuen, die Einzelweſen der Thiere und Pflanzen, aus dem Ei entwickeln. Die Stammesgeſchichte hingegen hat die viel dunklere und ſchwierigere Frage zu beantworten: „Wie ſind die organiſchen Species entſtanden, die einzelnen Arten der Thiere und Pflanzen?“
Die Ontogenie (ſowohl Embryologie als Metamorphik) konnte zur Löſung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächſt un- mittelbar den empiriſchen Weg der Beobachtung betreten; ſie brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die ſicht- baren Umbildungen zu verfolgen, welche der organiſche Keim innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei erfährt. Viel ſchwieriger war von vornherein die entfernt liegende Aufgabe der Phylogenie; denn die langſamen Proceſſe der allmählichen Umbildung, welche die Entſtehung der Thier- und Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen ſich unmerklich im Verlaufe von Jahrtauſenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beob-
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[[83]/0099]
Der jüngſte unter den großen Zweigen am lebendigen
Baume der Biologie iſt diejenige Naturwiſſenſchaft, welche wir
Stammesgeſchichte oder Phylogenie nennen. Sie hat
ſich noch weit ſpäter und unter viel größeren Schwierigkeiten
entwickelt, als ihre natürliche Schweſter, die Keimesgeſchichte oder
Ontogenie. Dieſe letztere hatte zur Aufgabe die Erkenntniß der
geheimnißvollen Vorgänge, durch welche ſich die organiſchen
Individuen, die Einzelweſen der Thiere und Pflanzen, aus
dem Ei entwickeln. Die Stammesgeſchichte hingegen hat die viel
dunklere und ſchwierigere Frage zu beantworten: „Wie ſind die
organiſchen Species entſtanden, die einzelnen Arten der Thiere
und Pflanzen?“
Die Ontogenie (ſowohl Embryologie als Metamorphik)
konnte zur Löſung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächſt un-
mittelbar den empiriſchen Weg der Beobachtung betreten; ſie
brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die ſicht-
baren Umbildungen zu verfolgen, welche der organiſche Keim
innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei
erfährt. Viel ſchwieriger war von vornherein die entfernt liegende
Aufgabe der Phylogenie; denn die langſamen Proceſſe der
allmählichen Umbildung, welche die Entſtehung der Thier- und
Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen ſich unmerklich im Verlaufe
von Jahrtauſenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beob-
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. [83]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/99>, abgerufen am 18.04.2024.
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