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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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dem Finger einer Dame seine Pfeife stopfte, (wenn das
Geschichtchen wahr ist,) giebt das Vorspiel zu allen
Verirrungen des Wahnsinns, dem eine fixe Idee nicht er-
laubt, die Gegenstände und Verhältnisse der Welt in
ihrem wahren Lichte zu erblicken. Der nämliche Mann,
dem Jenes begegnete, war vielleicht der besonnenste
Sterbliche in seiner Wissenschaft.

Wenn nun die wissenschaftliche oder künstlerische
Vertiefung alle heterogenen Vorstellungsreihen so stark
hemmen, die Auffassung der äussern Wahrnehmung so
sehr stören, wahrscheinlich auch den ganzen Organismus
entschieden nach sich stimmen kann: um wieviel muss
die Verzögerung, ja die Ausschliessung der rechten Ge-
danken -- derjenigen nämlich, die um einer praktischen
Rücksicht willen die rechten genannt werden, -- zu-
nehmen, sobald nun noch irgend welche fehlerhafte phy-
siologische Einwirkungen dazu kommen! sobald es dem
Organismus an Geschmeidigkeit fehlt, dem nöthigen
Wechsel der Vorstellungen gehörig begleitend nachzu-
folgen; sobald diejenigen Zustände, welche von den herr-
schenden Vorstellungsmassen herrühren, sich zu sehr be-
vestigen, um einem entgegengesetzten Antriebe leicht
nachzugeben!

Noch andere Beyspiele, dass ohne alle widrigen phy-
siologischen Einflüsse, die grössten und gesundesten Köpfe
der Unbesonnenheit zuweilen zum Raube werden, und
dass also da, wo im Wahnsinn dergleichen Erscheinun-
gen carricaturmässig vergrössert erscheinen, der leibliche
Zustand nur vollendet, was der psychologische Mecha-
nismus schon angefangen hatte, -- liefert uns die Ge-
schichte der Philosophie, in den Inconsequenzen der
Systeme; die, was das merkwürdigste ist, eine nicht bloss
augenblickliche, sondern permanente Unbesonnenheit, ei-
nen ausgebildeten Vorstellungskreis, in welchem dennoch
die Gedanken sich nicht gehörig durchdringen, uns vor
Augen legen. Gesundheit des Geistes war ohne allen
Zweifel in ganz vorzüglichem Grade das Eigenthum des

dem Finger einer Dame seine Pfeife stopfte, (wenn das
Geschichtchen wahr ist,) giebt das Vorspiel zu allen
Verirrungen des Wahnsinns, dem eine fixe Idee nicht er-
laubt, die Gegenstände und Verhältnisse der Welt in
ihrem wahren Lichte zu erblicken. Der nämliche Mann,
dem Jenes begegnete, war vielleicht der besonnenste
Sterbliche in seiner Wissenschaft.

Wenn nun die wissenschaftliche oder künstlerische
Vertiefung alle heterogenen Vorstellungsreihen so stark
hemmen, die Auffassung der äuſsern Wahrnehmung so
sehr stören, wahrscheinlich auch den ganzen Organismus
entschieden nach sich stimmen kann: um wieviel muſs
die Verzögerung, ja die Ausschlieſsung der rechten Ge-
danken — derjenigen nämlich, die um einer praktischen
Rücksicht willen die rechten genannt werden, — zu-
nehmen, sobald nun noch irgend welche fehlerhafte phy-
siologische Einwirkungen dazu kommen! sobald es dem
Organismus an Geschmeidigkeit fehlt, dem nöthigen
Wechsel der Vorstellungen gehörig begleitend nachzu-
folgen; sobald diejenigen Zustände, welche von den herr-
schenden Vorstellungsmassen herrühren, sich zu sehr be-
vestigen, um einem entgegengesetzten Antriebe leicht
nachzugeben!

Noch andere Beyspiele, daſs ohne alle widrigen phy-
siologischen Einflüsse, die gröſsten und gesundesten Köpfe
der Unbesonnenheit zuweilen zum Raube werden, und
daſs also da, wo im Wahnsinn dergleichen Erscheinun-
gen carricaturmäſsig vergröſsert erscheinen, der leibliche
Zustand nur vollendet, was der psychologische Mecha-
nismus schon angefangen hatte, — liefert uns die Ge-
schichte der Philosophie, in den Inconsequenzen der
Systeme; die, was das merkwürdigste ist, eine nicht bloſs
augenblickliche, sondern permanente Unbesonnenheit, ei-
nen ausgebildeten Vorstellungskreis, in welchem dennoch
die Gedanken sich nicht gehörig durchdringen, uns vor
Augen legen. Gesundheit des Geistes war ohne allen
Zweifel in ganz vorzüglichem Grade das Eigenthum des

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[505/0540] dem Finger einer Dame seine Pfeife stopfte, (wenn das Geschichtchen wahr ist,) giebt das Vorspiel zu allen Verirrungen des Wahnsinns, dem eine fixe Idee nicht er- laubt, die Gegenstände und Verhältnisse der Welt in ihrem wahren Lichte zu erblicken. Der nämliche Mann, dem Jenes begegnete, war vielleicht der besonnenste Sterbliche in seiner Wissenschaft. Wenn nun die wissenschaftliche oder künstlerische Vertiefung alle heterogenen Vorstellungsreihen so stark hemmen, die Auffassung der äuſsern Wahrnehmung so sehr stören, wahrscheinlich auch den ganzen Organismus entschieden nach sich stimmen kann: um wieviel muſs die Verzögerung, ja die Ausschlieſsung der rechten Ge- danken — derjenigen nämlich, die um einer praktischen Rücksicht willen die rechten genannt werden, — zu- nehmen, sobald nun noch irgend welche fehlerhafte phy- siologische Einwirkungen dazu kommen! sobald es dem Organismus an Geschmeidigkeit fehlt, dem nöthigen Wechsel der Vorstellungen gehörig begleitend nachzu- folgen; sobald diejenigen Zustände, welche von den herr- schenden Vorstellungsmassen herrühren, sich zu sehr be- vestigen, um einem entgegengesetzten Antriebe leicht nachzugeben! Noch andere Beyspiele, daſs ohne alle widrigen phy- siologischen Einflüsse, die gröſsten und gesundesten Köpfe der Unbesonnenheit zuweilen zum Raube werden, und daſs also da, wo im Wahnsinn dergleichen Erscheinun- gen carricaturmäſsig vergröſsert erscheinen, der leibliche Zustand nur vollendet, was der psychologische Mecha- nismus schon angefangen hatte, — liefert uns die Ge- schichte der Philosophie, in den Inconsequenzen der Systeme; die, was das merkwürdigste ist, eine nicht bloſs augenblickliche, sondern permanente Unbesonnenheit, ei- nen ausgebildeten Vorstellungskreis, in welchem dennoch die Gedanken sich nicht gehörig durchdringen, uns vor Augen legen. Gesundheit des Geistes war ohne allen Zweifel in ganz vorzüglichem Grade das Eigenthum des

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/540>, abgerufen am 25.04.2024.