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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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schichte eines gebildeten Frauenzimmers erzählt hat, das
in einem periodischen Wahnsinn sich für eine flüchtige
Französin hielt, und mit vorzüglicher Feinheit diese Rolle
spielte, von der sie selbst allein getäuscht wurde: setzt
er, in Beziehung auf ihre getheilte Persönlichkeit (denn
sie war abwechselnd Teutsche und Französin, jedes für
sich im Zusammenhange, keins in Verbindung mit dem
anderen,) den Ausruf hinzu: "Wer soll diese Ge-
"schichte erklären? der Materialist oder der
"Spiritualist nach den reinen Grundsätzen der
"Psychologie? Ich fürchte, seine Kunst schei-
"tert an diesem Phänomen
."

Das erste, was wohl Jedem hiebey einfällt, ist die
bekannte Thatsache, dass auch ohne Wahnsinn der
Traum manchmal ähnliche Erscheinungen darbietet. Die
Träume einer Nacht werden oft genug in der andern
fortgeträumt. Verschiedene körperliche Zustände rufen
verschiedene Vorstellungsmassen auf; jede von beyden
bildet sich für sich allein aus, unbekümmert um die andre
und von derselben unberührt.

Ich kann mich hier der Frage nicht erwehren: was
wohl in den Köpfen der Schulknaben vorgehn möge, die
an Einem Morgen durch eine Reihe heterogener Lectio-
nen herdurch getrieben werden, deren jede sich am fol-
genden Tage mit dem gleichen Glockenschlage wieder-
hohlt und fortsetzt. Sollten diese Knaben wohl die ver-
schiedenen Gedankenfäden, welche da gesponnen wer-
den, unter einander, und mit denen der Erhohlungsstun-
den, in Verbindung bringen? Es giebt Erzieher und
Lehrer, die das mit einem wunderbaren Vertrauen vor-
aussetzen, und deshalb weiter nicht bekümmert sind.

Ferner, was ist wohl der Geisteszustand des Musi-
kers, der die ganz eigenthümliche Gedankenreihe seiner
Kunst, nur in wenige, und sehr zufällige Verbindungen
mit andern Gegenständen bringen kann? Wer musika-
lische Phantasie hat, wird wissen, dass diese besonders
in recht heitern Stimmungen sehr gewöhnlich ihrem Triebe

schichte eines gebildeten Frauenzimmers erzählt hat, das
in einem periodischen Wahnsinn sich für eine flüchtige
Französin hielt, und mit vorzüglicher Feinheit diese Rolle
spielte, von der sie selbst allein getäuscht wurde: setzt
er, in Beziehung auf ihre getheilte Persönlichkeit (denn
sie war abwechselnd Teutsche und Französin, jedes für
sich im Zusammenhange, keins in Verbindung mit dem
anderen,) den Ausruf hinzu: „Wer soll diese Ge-
„schichte erklären? der Materialist oder der
„Spiritualist nach den reinen Grundsätzen der
„Psychologie? Ich fürchte, seine Kunst schei-
„tert an diesem Phänomen
.“

Das erste, was wohl Jedem hiebey einfällt, ist die
bekannte Thatsache, daſs auch ohne Wahnsinn der
Traum manchmal ähnliche Erscheinungen darbietet. Die
Träume einer Nacht werden oft genug in der andern
fortgeträumt. Verschiedene körperliche Zustände rufen
verschiedene Vorstellungsmassen auf; jede von beyden
bildet sich für sich allein aus, unbekümmert um die andre
und von derselben unberührt.

Ich kann mich hier der Frage nicht erwehren: was
wohl in den Köpfen der Schulknaben vorgehn möge, die
an Einem Morgen durch eine Reihe heterogener Lectio-
nen herdurch getrieben werden, deren jede sich am fol-
genden Tage mit dem gleichen Glockenschlage wieder-
hohlt und fortsetzt. Sollten diese Knaben wohl die ver-
schiedenen Gedankenfäden, welche da gesponnen wer-
den, unter einander, und mit denen der Erhohlungsstun-
den, in Verbindung bringen? Es giebt Erzieher und
Lehrer, die das mit einem wunderbaren Vertrauen vor-
aussetzen, und deshalb weiter nicht bekümmert sind.

Ferner, was ist wohl der Geisteszustand des Musi-
kers, der die ganz eigenthümliche Gedankenreihe seiner
Kunst, nur in wenige, und sehr zufällige Verbindungen
mit andern Gegenständen bringen kann? Wer musika-
lische Phantasie hat, wird wissen, daſs diese besonders
in recht heitern Stimmungen sehr gewöhnlich ihrem Triebe

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[508/0543] schichte eines gebildeten Frauenzimmers erzählt hat, das in einem periodischen Wahnsinn sich für eine flüchtige Französin hielt, und mit vorzüglicher Feinheit diese Rolle spielte, von der sie selbst allein getäuscht wurde: setzt er, in Beziehung auf ihre getheilte Persönlichkeit (denn sie war abwechselnd Teutsche und Französin, jedes für sich im Zusammenhange, keins in Verbindung mit dem anderen,) den Ausruf hinzu: „Wer soll diese Ge- „schichte erklären? der Materialist oder der „Spiritualist nach den reinen Grundsätzen der „Psychologie? Ich fürchte, seine Kunst schei- „tert an diesem Phänomen.“ Das erste, was wohl Jedem hiebey einfällt, ist die bekannte Thatsache, daſs auch ohne Wahnsinn der Traum manchmal ähnliche Erscheinungen darbietet. Die Träume einer Nacht werden oft genug in der andern fortgeträumt. Verschiedene körperliche Zustände rufen verschiedene Vorstellungsmassen auf; jede von beyden bildet sich für sich allein aus, unbekümmert um die andre und von derselben unberührt. Ich kann mich hier der Frage nicht erwehren: was wohl in den Köpfen der Schulknaben vorgehn möge, die an Einem Morgen durch eine Reihe heterogener Lectio- nen herdurch getrieben werden, deren jede sich am fol- genden Tage mit dem gleichen Glockenschlage wieder- hohlt und fortsetzt. Sollten diese Knaben wohl die ver- schiedenen Gedankenfäden, welche da gesponnen wer- den, unter einander, und mit denen der Erhohlungsstun- den, in Verbindung bringen? Es giebt Erzieher und Lehrer, die das mit einem wunderbaren Vertrauen vor- aussetzen, und deshalb weiter nicht bekümmert sind. Ferner, was ist wohl der Geisteszustand des Musi- kers, der die ganz eigenthümliche Gedankenreihe seiner Kunst, nur in wenige, und sehr zufällige Verbindungen mit andern Gegenständen bringen kann? Wer musika- lische Phantasie hat, wird wissen, daſs diese besonders in recht heitern Stimmungen sehr gewöhnlich ihrem Triebe

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/543>, abgerufen am 28.03.2024.