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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig,
wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar
sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben
könne?

In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist
noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das
Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die
so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der
Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und
wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den
Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An-
wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand
zu zeigen.

Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun-
gen erinnern, dass die Ichheit, wie sie bey allen sich
selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be-
stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine,
welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu-
fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu-
sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin-
nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben
Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich-
sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen
Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äusseren Ver-
hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem
Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach
verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde
seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts-
mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich
leidend, u. s. w. auffasst; oder indem aus der ganzen höchst
zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun-
denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht,
bald dies bald jenes mehr im Bewusstseyn sich hervor-
hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält
ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person;
und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele-
mal zu Stande, dass er nothwendig eine vielfältige Per-

nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig,
wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar
sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben
könne?

In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist
noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das
Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die
so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der
Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und
wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den
Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An-
wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand
zu zeigen.

Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun-
gen erinnern, daſs die Ichheit, wie sie bey allen sich
selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be-
stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine,
welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu-
fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu-
sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin-
nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben
Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich-
sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen
Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äuſseren Ver-
hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem
Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach
verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde
seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts-
mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich
leidend, u. s. w. auffaſst; oder indem aus der ganzen höchst
zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun-
denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht,
bald dies bald jenes mehr im Bewuſstseyn sich hervor-
hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält
ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person;
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[511/0546] nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig, wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben könne? In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An- wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand zu zeigen. Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun- gen erinnern, daſs die Ichheit, wie sie bey allen sich selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be- stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine, welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu- fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu- sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin- nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich- sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äuſseren Ver- hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts- mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich leidend, u. s. w. auffaſst; oder indem aus der ganzen höchst zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun- denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht, bald dies bald jenes mehr im Bewuſstseyn sich hervor- hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person; und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele- mal zu Stande, daſs er nothwendig eine vielfältige Per-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/546>, abgerufen am 28.03.2024.