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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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begriffe der Geometrie hergeben, ist so viel unnöthiger, weil
man auf den ersten Blick sehen kann, daß dieselben, bey
vorausgesetzter Production der Reihenformen, sich werden
aus der Erfahrung erhalten lassen, wofern es möglich ist,
zu scheiden, was die Sinne vermischt darbieten; eine Ope-
ration, welche der Erzeugung wissenschaftlicher Allgemein-
Begriffe nicht unähnlich seyn wird.

F. Reproduction.

89. Bey der Reproduction, welche sich ganz auf das
zeitliche Leben des Menschen, nämlich auf die Fortdauer
einmal erzeugter Vorstellungen bezieht, treffen wir wiederum
auf eine Sorglosigkeit der Psychologen in Ansehung dessen,
wornach zu fragen ist. Unsre Vorstellungen nämlich wei-
chen aus dem Bewußtseyn zurück, und kehren wieder; wo-
von nun soll erst der Grund gesucht werden, von dem Zu-
rückweichen, oder vom Wiederkehren? Auf jenes muß zuerst
die Frage gerichtet werden, während gewöhnlich nur vom
letztern geredet wird.

90. Zweyerley kann vorzüglich seyn an der Repro-
duction: ihre Lebhaftigkeit und ihre Treue. Jene
schreibt man der Einbildungskraft, diese dem Ge-
dächtnisse
zu. So sind zwey Seelenvermögen erdichtet
für einerley Sache, die von verschiedenen Seiten betrachtet
wird. Dafür giebt es jedoch eine Entschuldigung, die in
dem gleich Folgenden leicht zu erkennen ist.

91. Die Treue und die Lebhaftigkeit der Reproduction finden
sich sehr selten in einem hohen Grade gleichmäßig
beysammen. Es beruht nämlich die Treue darauf, daß eine
Vorstellung sich in demselben Zusammenhange mit andern
erneuere, worin sie zuerst vorkam. (Mit denselben Merk-
malen Eines Dinges, denselben Umständen Einer Begeben-
heit, derselben Zeitbestimmung und örtlichen Verknüpfung

begriffe der Geometrie hergeben, ist so viel unnöthiger, weil
man auf den ersten Blick sehen kann, daß dieselben, bey
vorausgesetzter Production der Reihenformen, sich werden
aus der Erfahrung erhalten lassen, wofern es möglich ist,
zu scheiden, was die Sinne vermischt darbieten; eine Ope-
ration, welche der Erzeugung wissenschaftlicher Allgemein-
Begriffe nicht unähnlich seyn wird.

F. Reproduction.

89. Bey der Reproduction, welche sich ganz auf das
zeitliche Leben des Menschen, nämlich auf die Fortdauer
einmal erzeugter Vorstellungen bezieht, treffen wir wiederum
auf eine Sorglosigkeit der Psychologen in Ansehung dessen,
wornach zu fragen ist. Unsre Vorstellungen nämlich wei-
chen aus dem Bewußtseyn zurück, und kehren wieder; wo-
von nun soll erst der Grund gesucht werden, von dem Zu-
rückweichen, oder vom Wiederkehren? Auf jenes muß zuerst
die Frage gerichtet werden, während gewöhnlich nur vom
letztern geredet wird.

90. Zweyerley kann vorzüglich seyn an der Repro-
duction: ihre Lebhaftigkeit und ihre Treue. Jene
schreibt man der Einbildungskraft, diese dem Ge-
dächtnisse
zu. So sind zwey Seelenvermögen erdichtet
für einerley Sache, die von verschiedenen Seiten betrachtet
wird. Dafür giebt es jedoch eine Entschuldigung, die in
dem gleich Folgenden leicht zu erkennen ist.

91. Die Treue und die Lebhaftigkeit der Reproduction finden
sich sehr selten in einem hohen Grade gleichmäßig
beysammen. Es beruht nämlich die Treue darauf, daß eine
Vorstellung sich in demselben Zusammenhange mit andern
erneuere, worin sie zuerst vorkam. (Mit denselben Merk-
malen Eines Dinges, denselben Umständen Einer Begeben-
heit, derselben Zeitbestimmung und örtlichen Verknüpfung

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[72/0080] begriffe der Geometrie hergeben, ist so viel unnöthiger, weil man auf den ersten Blick sehen kann, daß dieselben, bey vorausgesetzter Production der Reihenformen, sich werden aus der Erfahrung erhalten lassen, wofern es möglich ist, zu scheiden, was die Sinne vermischt darbieten; eine Ope- ration, welche der Erzeugung wissenschaftlicher Allgemein- Begriffe nicht unähnlich seyn wird. F. Reproduction. 89. Bey der Reproduction, welche sich ganz auf das zeitliche Leben des Menschen, nämlich auf die Fortdauer einmal erzeugter Vorstellungen bezieht, treffen wir wiederum auf eine Sorglosigkeit der Psychologen in Ansehung dessen, wornach zu fragen ist. Unsre Vorstellungen nämlich wei- chen aus dem Bewußtseyn zurück, und kehren wieder; wo- von nun soll erst der Grund gesucht werden, von dem Zu- rückweichen, oder vom Wiederkehren? Auf jenes muß zuerst die Frage gerichtet werden, während gewöhnlich nur vom letztern geredet wird. 90. Zweyerley kann vorzüglich seyn an der Repro- duction: ihre Lebhaftigkeit und ihre Treue. Jene schreibt man der Einbildungskraft, diese dem Ge- dächtnisse zu. So sind zwey Seelenvermögen erdichtet für einerley Sache, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird. Dafür giebt es jedoch eine Entschuldigung, die in dem gleich Folgenden leicht zu erkennen ist. 91. Die Treue und die Lebhaftigkeit der Reproduction finden sich sehr selten in einem hohen Grade gleichmäßig beysammen. Es beruht nämlich die Treue darauf, daß eine Vorstellung sich in demselben Zusammenhange mit andern erneuere, worin sie zuerst vorkam. (Mit denselben Merk- malen Eines Dinges, denselben Umständen Einer Begeben- heit, derselben Zeitbestimmung und örtlichen Verknüpfung

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/80>, abgerufen am 19.04.2024.