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[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

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I. Niemand in der Welt fühlt die Schwä-
che des allgemeinen Charakterisirens
mehr als
ich. Man mahlet ein ganzes Volk, Zeitalter,
Erdstrich -- wen hat man gemahlt? Man
fasset auf einander folgende Völker und Zeit-
läufte, in einer ewigen Abwechslung, wie
Wogen des Meeres zusammen -- wen hat
man gemahlt? wen hat das schildernde Wort
getroffen? -- Endlich man faßt sie doch in
Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen,
wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er
will -- unvollkommenes Mittel der Schil-
derung!
wie kann man mißverstanden wer-
den! --

Wer bemerkt hat, was es für eine unaus-
sprechliche Sache
mit der Eigenheit eines
Menschen sey, das Unterscheidende unterschei-
dend sagen
zu können? wie Er fühlt und lebet?
wie anders und eigen Jhm alle Dinge wer-
den, nachdem sie sein Auge siehet, seine Seele
mißt, sein Herz empfindet -- welche Tiefe
in dem Charakter nur Einer Nation liege, die,
wenn man sie auch oft genug wahrgenommen
und angestaunet hat, doch so sehr das Wort

fleucht,




I. Niemand in der Welt fuͤhlt die Schwaͤ-
che des allgemeinen Charakteriſirens
mehr als
ich. Man mahlet ein ganzes Volk, Zeitalter,
Erdſtrich — wen hat man gemahlt? Man
faſſet auf einander folgende Voͤlker und Zeit-
laͤufte, in einer ewigen Abwechslung, wie
Wogen des Meeres zuſammen — wen hat
man gemahlt? wen hat das ſchildernde Wort
getroffen? — Endlich man faßt ſie doch in
Nichts, als ein allgemeines Wort zuſammen,
wo jeder vielleicht denkt und fuͤhlt, was er
will — unvollkommenes Mittel der Schil-
derung!
wie kann man mißverſtanden wer-
den! —

Wer bemerkt hat, was es fuͤr eine unaus-
ſprechliche Sache
mit der Eigenheit eines
Menſchen ſey, das Unterſcheidende unterſchei-
dend ſagen
zu koͤnnen? wie Er fuͤhlt und lebet?
wie anders und eigen Jhm alle Dinge wer-
den, nachdem ſie ſein Auge ſiehet, ſeine Seele
mißt, ſein Herz empfindet — welche Tiefe
in dem Charakter nur Einer Nation liege, die,
wenn man ſie auch oft genug wahrgenommen
und angeſtaunet hat, doch ſo ſehr das Wort

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[44/0048] I. Niemand in der Welt fuͤhlt die Schwaͤ- che des allgemeinen Charakteriſirens mehr als ich. Man mahlet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdſtrich — wen hat man gemahlt? Man faſſet auf einander folgende Voͤlker und Zeit- laͤufte, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zuſammen — wen hat man gemahlt? wen hat das ſchildernde Wort getroffen? — Endlich man faßt ſie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zuſammen, wo jeder vielleicht denkt und fuͤhlt, was er will — unvollkommenes Mittel der Schil- derung! wie kann man mißverſtanden wer- den! — Wer bemerkt hat, was es fuͤr eine unaus- ſprechliche Sache mit der Eigenheit eines Menſchen ſey, das Unterſcheidende unterſchei- dend ſagen zu koͤnnen? wie Er fuͤhlt und lebet? wie anders und eigen Jhm alle Dinge wer- den, nachdem ſie ſein Auge ſiehet, ſeine Seele mißt, ſein Herz empfindet — welche Tiefe in dem Charakter nur Einer Nation liege, die, wenn man ſie auch oft genug wahrgenommen und angeſtaunet hat, doch ſo ſehr das Wort fleucht,

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/48>, abgerufen am 25.04.2024.