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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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ihn, sich auch das gefallen zu lassen. Als der Arzt
von den entschleierten Augen auf einige Secunden
die Hand wegnahm, schrie er heftig auf vor freudi¬
gem Schreck.

Marlene zuckte zusammen, dann bestand sie auch
ohne einen Laut die kurze Pein. Aber Thränen stürz¬
ten ihr aus den Augen und ihr Leib zitterte, so daß
der Arzt ihr die Binde eilig umthat und sie selbst in
ihre Kammer bringen half, denn die Kniee wankten
ihr. Dort auf ihrem Lager stritten sich lange Schlaf
und Ohnmacht um sie, während der Knabe versicherte,
ihm sei völlig wohl, und nur auf den ernsten Befehl
des Vaters sich niederlegte.

Sobald aber entschlief er nicht. Bunte Gestalten,
bunt zum erstenmal, glitten an ihm vorüber, geheim¬
nißvoll, die ihm noch Nichts waren und doch so Viel
werden sollten, wenn die Leute Recht hatten, die
ihm Glück wünschten. Er fragte Vater und Mutter,
die an seinem Bette saßen, nach hundert Dingen,
die ihm freilich die tiefsinnigste Wissenschaft nicht hätte
enträthseln können. Denn was weiß sie von dem
Quell des Lebens? Der Vater bittet ihn, sich zu ge¬
dulden, denn mit Gottes Hilfe werde er bald in
seinen Zweifeln selbst klarer sehen. Jetzt sei ihm Ruhe
noth und vor Allem Marlenen, die er leicht durch
sein Sprechen aufwecken könne. Da schweigt er denn
und horcht durch die Wand. Er bittet flüsternd, man

ihn, ſich auch das gefallen zu laſſen. Als der Arzt
von den entſchleierten Augen auf einige Secunden
die Hand wegnahm, ſchrie er heftig auf vor freudi¬
gem Schreck.

Marlene zuckte zuſammen, dann beſtand ſie auch
ohne einen Laut die kurze Pein. Aber Thränen ſtürz¬
ten ihr aus den Augen und ihr Leib zitterte, ſo daß
der Arzt ihr die Binde eilig umthat und ſie ſelbſt in
ihre Kammer bringen half, denn die Kniee wankten
ihr. Dort auf ihrem Lager ſtritten ſich lange Schlaf
und Ohnmacht um ſie, während der Knabe verſicherte,
ihm ſei völlig wohl, und nur auf den ernſten Befehl
des Vaters ſich niederlegte.

Sobald aber entſchlief er nicht. Bunte Geſtalten,
bunt zum erſtenmal, glitten an ihm vorüber, geheim¬
nißvoll, die ihm noch Nichts waren und doch ſo Viel
werden ſollten, wenn die Leute Recht hatten, die
ihm Glück wünſchten. Er fragte Vater und Mutter,
die an ſeinem Bette ſaßen, nach hundert Dingen,
die ihm freilich die tiefſinnigſte Wiſſenſchaft nicht hätte
enträthſeln können. Denn was weiß ſie von dem
Quell des Lebens? Der Vater bittet ihn, ſich zu ge¬
dulden, denn mit Gottes Hilfe werde er bald in
ſeinen Zweifeln ſelbſt klarer ſehen. Jetzt ſei ihm Ruhe
noth und vor Allem Marlenen, die er leicht durch
ſein Sprechen aufwecken könne. Da ſchweigt er denn
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[11/0023] ihn, ſich auch das gefallen zu laſſen. Als der Arzt von den entſchleierten Augen auf einige Secunden die Hand wegnahm, ſchrie er heftig auf vor freudi¬ gem Schreck. Marlene zuckte zuſammen, dann beſtand ſie auch ohne einen Laut die kurze Pein. Aber Thränen ſtürz¬ ten ihr aus den Augen und ihr Leib zitterte, ſo daß der Arzt ihr die Binde eilig umthat und ſie ſelbſt in ihre Kammer bringen half, denn die Kniee wankten ihr. Dort auf ihrem Lager ſtritten ſich lange Schlaf und Ohnmacht um ſie, während der Knabe verſicherte, ihm ſei völlig wohl, und nur auf den ernſten Befehl des Vaters ſich niederlegte. Sobald aber entſchlief er nicht. Bunte Geſtalten, bunt zum erſtenmal, glitten an ihm vorüber, geheim¬ nißvoll, die ihm noch Nichts waren und doch ſo Viel werden ſollten, wenn die Leute Recht hatten, die ihm Glück wünſchten. Er fragte Vater und Mutter, die an ſeinem Bette ſaßen, nach hundert Dingen, die ihm freilich die tiefſinnigſte Wiſſenſchaft nicht hätte enträthſeln können. Denn was weiß ſie von dem Quell des Lebens? Der Vater bittet ihn, ſich zu ge¬ dulden, denn mit Gottes Hilfe werde er bald in ſeinen Zweifeln ſelbſt klarer ſehen. Jetzt ſei ihm Ruhe noth und vor Allem Marlenen, die er leicht durch ſein Sprechen aufwecken könne. Da ſchweigt er denn und horcht durch die Wand. Er bittet flüſternd, man

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/23>, abgerufen am 28.03.2024.