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Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855.

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noch nicht vergeben, daß ich sie in der Kühle draußen
sitzen ließ."

"Sprich leiser, lieber Sohn," sagte die Mutter.
"Sie schläft dicht nebenan. Und am besten thätest
du, du gingest auch schlafen."

Flüsternd sagte der Knabe "gute Nacht." -- Als
die Mutter zu Marlenen in die Kammer kam, fand
sie das Mädchen ruhig und anscheinend entschlafen.
Jener unheimliche Ausdruck der Züge war einer liebe¬
vollen Stille gewichen. Der Sturm war vorüber
und hatte noch nichts in ihr verwüstet. Auch Scham
und Reue regten sich kaum; so allmächtig herrschte
in ihr der freudige Frieden, der ihr im Nebengemach
war gepredigt worden. Denn das Böse erwirbt sich
langsam und auf Schleichwegen seine Herrschaft über
uns; der Sieg des Guten ist schnell entschieden.


noch nicht vergeben, daß ich ſie in der Kühle draußen
ſitzen ließ.“

„Sprich leiſer, lieber Sohn,“ ſagte die Mutter.
„Sie ſchläft dicht nebenan. Und am beſten thäteſt
du, du gingeſt auch ſchlafen.“

Flüſternd ſagte der Knabe „gute Nacht.“ — Als
die Mutter zu Marlenen in die Kammer kam, fand
ſie das Mädchen ruhig und anſcheinend entſchlafen.
Jener unheimliche Ausdruck der Züge war einer liebe¬
vollen Stille gewichen. Der Sturm war vorüber
und hatte noch nichts in ihr verwüſtet. Auch Scham
und Reue regten ſich kaum; ſo allmächtig herrſchte
in ihr der freudige Frieden, der ihr im Nebengemach
war gepredigt worden. Denn das Böſe erwirbt ſich
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uns; der Sieg des Guten iſt ſchnell entſchieden.


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[34/0046] noch nicht vergeben, daß ich ſie in der Kühle draußen ſitzen ließ.“ „Sprich leiſer, lieber Sohn,“ ſagte die Mutter. „Sie ſchläft dicht nebenan. Und am beſten thäteſt du, du gingeſt auch ſchlafen.“ Flüſternd ſagte der Knabe „gute Nacht.“ — Als die Mutter zu Marlenen in die Kammer kam, fand ſie das Mädchen ruhig und anſcheinend entſchlafen. Jener unheimliche Ausdruck der Züge war einer liebe¬ vollen Stille gewichen. Der Sturm war vorüber und hatte noch nichts in ihr verwüſtet. Auch Scham und Reue regten ſich kaum; ſo allmächtig herrſchte in ihr der freudige Frieden, der ihr im Nebengemach war gepredigt worden. Denn das Böſe erwirbt ſich langſam und auf Schleichwegen ſeine Herrſchaft über uns; der Sieg des Guten iſt ſchnell entſchieden.

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Zitationshilfe: Heyse, Paul: Novellen. Berlin, 1855, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heyse_novellen_1855/46>, abgerufen am 29.03.2024.