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Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 3. Leipzig, 1780.

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Einsiedeleyen, Capellen und Ruinen.
annehmen. So erwecken die Ruinen eines Bergschlosses, eines Klosters, eines alten
Landsitzes sehr abgeänderte Bewegungen, besonders abgeändert durch die Betrachtung
der Zeit und anderer Umstände, die an sich so vielfältig unterschieden seyn können.
Man kehrt in Zeiten zurück, die nicht mehr sind. Man lebt auf einige Augenblicke
wieder in den Jahrhunderten der Barbarey und der Fehde, aber auch der Stärke und
der Tapferkeit; in den Jahrhunderten des Aberglaubens, aber auch der eingezogenen
Andacht; in den Jahrhunderten der Wildheit und der Jagdbegierde, aber auch der
Gastfreundschaft. Allein außer einem Bergschlosse, einem Kloster, einem alten Land-
sitz können noch Ruinen von andern Arten von Gebäuden ihre besondern Wirkungen
verbreiten. Bey allen Ruinen aber stellt der Geist unvermerkt eine Vergleichung
zwischen ihrem vormaligen und ihrem jetzigen Zustande an; die Erinnerung an Be-
gebenheiten oder Sitten der Vorwelt wird erneuert; und die Einbildungskraft nimmt
aus den vorliegenden Denkmälern Veranlassung weiter zu gehen, als der Blick reicht,
sich in Vorstellungen zu verlieren, die eine geheime, aber reiche Quelle des Vergnü-
gens und der süßesten Melancholie enthalten.

Dies sind die Wirkungen der wahren Ruinen; und wenn die nachgeahmten
mit einer glücklichen Täuschung angelegt sind, so können sie fast eben diese Wirkungen
haben. Und durch diese Wirkungen werden die Ruinen eine schätzbare Gattung,
Werke von einem eigenthümlichen Charakter; sie erregen Vorstellungen und Empfin-
dungen, welche die Gebäude selbst, wenn sie noch vollständig vorhanden wären, nicht
hervorbringen würden.

3.

Aus diesen Wirkungen der Ruinen läßt sich auch die Anlage bestimmen, die
man ihnen zu geben hat. Die wichtigste Kunst ist, ihnen das Ansehen der Kunst zu
nehmen, ihnen eine Anordnung, eine Verbindung oder eine Unterbrechung zu geben,
wodurch sie alt und wirklich von der Hand der Zeit oder von der Macht der Witterung
gebildet scheinen. Zu dieser Absicht ist nöthig, daß sich Maffen von einer beträchtli-
chen Größe zeigen, und daß, so zertrennt und zerstört auch alles ist, sich doch einige
Verhältnisse der Stücke, wiewohl undeutlich, erkennen lassen. Kleine unbeträchtliche
Steine haben so wenig Wirkung, als Trümmer, denen man es gleich ansieht, daß
sie nur zusammengeworfen sind, nicht aber als Theile eines zerfallenen Ganzen zusam-
men gehören. Die Verbindung aller Theile mag aufgehört haben, weil die Tren-
nung eine natürliche Wirkung der Zeit ist; nur müssen die Theile, noch dem Orte
nach, eine gewisse Verbindung behalten haben, nicht so weit von einander zerstreut

liegen,

Einſiedeleyen, Capellen und Ruinen.
annehmen. So erwecken die Ruinen eines Bergſchloſſes, eines Kloſters, eines alten
Landſitzes ſehr abgeaͤnderte Bewegungen, beſonders abgeaͤndert durch die Betrachtung
der Zeit und anderer Umſtaͤnde, die an ſich ſo vielfaͤltig unterſchieden ſeyn koͤnnen.
Man kehrt in Zeiten zuruͤck, die nicht mehr ſind. Man lebt auf einige Augenblicke
wieder in den Jahrhunderten der Barbarey und der Fehde, aber auch der Staͤrke und
der Tapferkeit; in den Jahrhunderten des Aberglaubens, aber auch der eingezogenen
Andacht; in den Jahrhunderten der Wildheit und der Jagdbegierde, aber auch der
Gaſtfreundſchaft. Allein außer einem Bergſchloſſe, einem Kloſter, einem alten Land-
ſitz koͤnnen noch Ruinen von andern Arten von Gebaͤuden ihre beſondern Wirkungen
verbreiten. Bey allen Ruinen aber ſtellt der Geiſt unvermerkt eine Vergleichung
zwiſchen ihrem vormaligen und ihrem jetzigen Zuſtande an; die Erinnerung an Be-
gebenheiten oder Sitten der Vorwelt wird erneuert; und die Einbildungskraft nimmt
aus den vorliegenden Denkmaͤlern Veranlaſſung weiter zu gehen, als der Blick reicht,
ſich in Vorſtellungen zu verlieren, die eine geheime, aber reiche Quelle des Vergnuͤ-
gens und der ſuͤßeſten Melancholie enthalten.

Dies ſind die Wirkungen der wahren Ruinen; und wenn die nachgeahmten
mit einer gluͤcklichen Taͤuſchung angelegt ſind, ſo koͤnnen ſie faſt eben dieſe Wirkungen
haben. Und durch dieſe Wirkungen werden die Ruinen eine ſchaͤtzbare Gattung,
Werke von einem eigenthuͤmlichen Charakter; ſie erregen Vorſtellungen und Empfin-
dungen, welche die Gebaͤude ſelbſt, wenn ſie noch vollſtaͤndig vorhanden waͤren, nicht
hervorbringen wuͤrden.

3.

Aus dieſen Wirkungen der Ruinen laͤßt ſich auch die Anlage beſtimmen, die
man ihnen zu geben hat. Die wichtigſte Kunſt iſt, ihnen das Anſehen der Kunſt zu
nehmen, ihnen eine Anordnung, eine Verbindung oder eine Unterbrechung zu geben,
wodurch ſie alt und wirklich von der Hand der Zeit oder von der Macht der Witterung
gebildet ſcheinen. Zu dieſer Abſicht iſt noͤthig, daß ſich Maffen von einer betraͤchtli-
chen Groͤße zeigen, und daß, ſo zertrennt und zerſtoͤrt auch alles iſt, ſich doch einige
Verhaͤltniſſe der Stuͤcke, wiewohl undeutlich, erkennen laſſen. Kleine unbetraͤchtliche
Steine haben ſo wenig Wirkung, als Truͤmmer, denen man es gleich anſieht, daß
ſie nur zuſammengeworfen ſind, nicht aber als Theile eines zerfallenen Ganzen zuſam-
men gehoͤren. Die Verbindung aller Theile mag aufgehoͤrt haben, weil die Tren-
nung eine natuͤrliche Wirkung der Zeit iſt; nur muͤſſen die Theile, noch dem Orte
nach, eine gewiſſe Verbindung behalten haben, nicht ſo weit von einander zerſtreut

liegen,
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[111/0115] Einſiedeleyen, Capellen und Ruinen. annehmen. So erwecken die Ruinen eines Bergſchloſſes, eines Kloſters, eines alten Landſitzes ſehr abgeaͤnderte Bewegungen, beſonders abgeaͤndert durch die Betrachtung der Zeit und anderer Umſtaͤnde, die an ſich ſo vielfaͤltig unterſchieden ſeyn koͤnnen. Man kehrt in Zeiten zuruͤck, die nicht mehr ſind. Man lebt auf einige Augenblicke wieder in den Jahrhunderten der Barbarey und der Fehde, aber auch der Staͤrke und der Tapferkeit; in den Jahrhunderten des Aberglaubens, aber auch der eingezogenen Andacht; in den Jahrhunderten der Wildheit und der Jagdbegierde, aber auch der Gaſtfreundſchaft. Allein außer einem Bergſchloſſe, einem Kloſter, einem alten Land- ſitz koͤnnen noch Ruinen von andern Arten von Gebaͤuden ihre beſondern Wirkungen verbreiten. Bey allen Ruinen aber ſtellt der Geiſt unvermerkt eine Vergleichung zwiſchen ihrem vormaligen und ihrem jetzigen Zuſtande an; die Erinnerung an Be- gebenheiten oder Sitten der Vorwelt wird erneuert; und die Einbildungskraft nimmt aus den vorliegenden Denkmaͤlern Veranlaſſung weiter zu gehen, als der Blick reicht, ſich in Vorſtellungen zu verlieren, die eine geheime, aber reiche Quelle des Vergnuͤ- gens und der ſuͤßeſten Melancholie enthalten. Dies ſind die Wirkungen der wahren Ruinen; und wenn die nachgeahmten mit einer gluͤcklichen Taͤuſchung angelegt ſind, ſo koͤnnen ſie faſt eben dieſe Wirkungen haben. Und durch dieſe Wirkungen werden die Ruinen eine ſchaͤtzbare Gattung, Werke von einem eigenthuͤmlichen Charakter; ſie erregen Vorſtellungen und Empfin- dungen, welche die Gebaͤude ſelbſt, wenn ſie noch vollſtaͤndig vorhanden waͤren, nicht hervorbringen wuͤrden. 3. Aus dieſen Wirkungen der Ruinen laͤßt ſich auch die Anlage beſtimmen, die man ihnen zu geben hat. Die wichtigſte Kunſt iſt, ihnen das Anſehen der Kunſt zu nehmen, ihnen eine Anordnung, eine Verbindung oder eine Unterbrechung zu geben, wodurch ſie alt und wirklich von der Hand der Zeit oder von der Macht der Witterung gebildet ſcheinen. Zu dieſer Abſicht iſt noͤthig, daß ſich Maffen von einer betraͤchtli- chen Groͤße zeigen, und daß, ſo zertrennt und zerſtoͤrt auch alles iſt, ſich doch einige Verhaͤltniſſe der Stuͤcke, wiewohl undeutlich, erkennen laſſen. Kleine unbetraͤchtliche Steine haben ſo wenig Wirkung, als Truͤmmer, denen man es gleich anſieht, daß ſie nur zuſammengeworfen ſind, nicht aber als Theile eines zerfallenen Ganzen zuſam- men gehoͤren. Die Verbindung aller Theile mag aufgehoͤrt haben, weil die Tren- nung eine natuͤrliche Wirkung der Zeit iſt; nur muͤſſen die Theile, noch dem Orte nach, eine gewiſſe Verbindung behalten haben, nicht ſo weit von einander zerſtreut liegen,

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Zitationshilfe: Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Bd. 3. Leipzig, 1780, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hirschfeld_gartenkunst3_1780/115>, abgerufen am 28.03.2024.