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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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Durch diesen innigen Verband zwischen Sprache, Volkscharakter
und Körperbildung erhalten sich die Völker einander gegenüber
in ihrer Verschiedenheit und Eigentümlichkeit, und dies ist
eine unerschöpfliche Quelle von Bewegung und Leben in der
geistigen Welt.

Die Missionäre konnten den Indianern gewisse alte Ge-
bräuche bei der Geburt eines Kindes, beim Mannbarwerden,
bei der Bestattung der Toten verbieten; sie konnten es dahin
bringen, daß sie sich nicht mehr die Haut bemalten oder in
Kinn, Nase und Wangen Einschnitte machten; sie konnten
beim großen Haufen die abergläubischen Vorstellungen aus-
rotten, die in manchen Familien im geheimen sich forterben;
aber es war leichter, Gebräuche abzustellen und Erinnerungen
zu verwischen, als die alten Vorstellungen durch neue zu er-
setzen. In den Missionen ist dem Indianer sein Lebens-
unterhalt gesicherter als zuvor. Er liegt nicht mehr in be-
ständigem Kampfe mit feindlichen Gewalten, mit Menschen
und Elementen, und führt so dem wilden, unabhängigen
Indianer gegenüber ein einförmigeres, unthätigeres, der Ent-
wickelung der Geistes- und Gemütskraft weniger günstiges
Leben. Wenn er gutmütig ist, so kommt dies nur daher,
weil er die Ruhe liebt, nicht weil er gefühlvoll ist und ge-
mütlich. Wo er außer Verkehr mit den Weißen auch all
den Gegenständen fern geblieben ist, welche die Kultur der
Neuen Welt zugebracht, hat sich der Kreis seiner Vorstellungen
nicht erweitert. Alle seine Handlungen scheinen nur durch
das augenblickliche Bedürfnis bestimmt zu werden. Er ist
schweigsam, verdrossen, in sich gekehrt, seine Miene ist ernst,
geheimnisvoll. Wer nicht lange in den Missionen gelebt hat
und an das Aussehen der Eingeborenen nicht gewöhnt ist,
hält ihre Trägheit und geistige Starrheit leicht für den Aus-
druck der Schwermut und des Tiefsinns.

Ich habe die Charakterzüge des Indianers und die Ver-
änderungen, die sein Wesen unter der Zucht der Missionäre
erleidet, so scharf hervorgehoben, um den einzelnen Beobach-
tungen, die den Inhalt dieses Abschnittes bilden sollen, mehr
Interesse zu geben. Ich beginne mit der Nation der Chay-
mas, deren über 15000 in den oben beschriebenen Missionen
leben. Diese nicht sehr kriegerische Nation, welche Pater
Francisco de Pamplona um die Mitte des 17. Jahrhunderts
in Zucht zu nehmen anfing, hat gegen West die Cumana-
goten, gegen Ost die Guaraunen, gegen Süd die Kariben zu

Durch dieſen innigen Verband zwiſchen Sprache, Volkscharakter
und Körperbildung erhalten ſich die Völker einander gegenüber
in ihrer Verſchiedenheit und Eigentümlichkeit, und dies iſt
eine unerſchöpfliche Quelle von Bewegung und Leben in der
geiſtigen Welt.

Die Miſſionäre konnten den Indianern gewiſſe alte Ge-
bräuche bei der Geburt eines Kindes, beim Mannbarwerden,
bei der Beſtattung der Toten verbieten; ſie konnten es dahin
bringen, daß ſie ſich nicht mehr die Haut bemalten oder in
Kinn, Naſe und Wangen Einſchnitte machten; ſie konnten
beim großen Haufen die abergläubiſchen Vorſtellungen aus-
rotten, die in manchen Familien im geheimen ſich forterben;
aber es war leichter, Gebräuche abzuſtellen und Erinnerungen
zu verwiſchen, als die alten Vorſtellungen durch neue zu er-
ſetzen. In den Miſſionen iſt dem Indianer ſein Lebens-
unterhalt geſicherter als zuvor. Er liegt nicht mehr in be-
ſtändigem Kampfe mit feindlichen Gewalten, mit Menſchen
und Elementen, und führt ſo dem wilden, unabhängigen
Indianer gegenüber ein einförmigeres, unthätigeres, der Ent-
wickelung der Geiſtes- und Gemütskraft weniger günſtiges
Leben. Wenn er gutmütig iſt, ſo kommt dies nur daher,
weil er die Ruhe liebt, nicht weil er gefühlvoll iſt und ge-
mütlich. Wo er außer Verkehr mit den Weißen auch all
den Gegenſtänden fern geblieben iſt, welche die Kultur der
Neuen Welt zugebracht, hat ſich der Kreis ſeiner Vorſtellungen
nicht erweitert. Alle ſeine Handlungen ſcheinen nur durch
das augenblickliche Bedürfnis beſtimmt zu werden. Er iſt
ſchweigſam, verdroſſen, in ſich gekehrt, ſeine Miene iſt ernſt,
geheimnisvoll. Wer nicht lange in den Miſſionen gelebt hat
und an das Ausſehen der Eingeborenen nicht gewöhnt iſt,
hält ihre Trägheit und geiſtige Starrheit leicht für den Aus-
druck der Schwermut und des Tiefſinns.

Ich habe die Charakterzüge des Indianers und die Ver-
änderungen, die ſein Weſen unter der Zucht der Miſſionäre
erleidet, ſo ſcharf hervorgehoben, um den einzelnen Beobach-
tungen, die den Inhalt dieſes Abſchnittes bilden ſollen, mehr
Intereſſe zu geben. Ich beginne mit der Nation der Chay-
mas, deren über 15000 in den oben beſchriebenen Miſſionen
leben. Dieſe nicht ſehr kriegeriſche Nation, welche Pater
Francisco de Pamplona um die Mitte des 17. Jahrhunderts
in Zucht zu nehmen anfing, hat gegen Weſt die Cumana-
goten, gegen Oſt die Guaraunen, gegen Süd die Kariben zu

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[10/0018] Durch dieſen innigen Verband zwiſchen Sprache, Volkscharakter und Körperbildung erhalten ſich die Völker einander gegenüber in ihrer Verſchiedenheit und Eigentümlichkeit, und dies iſt eine unerſchöpfliche Quelle von Bewegung und Leben in der geiſtigen Welt. Die Miſſionäre konnten den Indianern gewiſſe alte Ge- bräuche bei der Geburt eines Kindes, beim Mannbarwerden, bei der Beſtattung der Toten verbieten; ſie konnten es dahin bringen, daß ſie ſich nicht mehr die Haut bemalten oder in Kinn, Naſe und Wangen Einſchnitte machten; ſie konnten beim großen Haufen die abergläubiſchen Vorſtellungen aus- rotten, die in manchen Familien im geheimen ſich forterben; aber es war leichter, Gebräuche abzuſtellen und Erinnerungen zu verwiſchen, als die alten Vorſtellungen durch neue zu er- ſetzen. In den Miſſionen iſt dem Indianer ſein Lebens- unterhalt geſicherter als zuvor. Er liegt nicht mehr in be- ſtändigem Kampfe mit feindlichen Gewalten, mit Menſchen und Elementen, und führt ſo dem wilden, unabhängigen Indianer gegenüber ein einförmigeres, unthätigeres, der Ent- wickelung der Geiſtes- und Gemütskraft weniger günſtiges Leben. Wenn er gutmütig iſt, ſo kommt dies nur daher, weil er die Ruhe liebt, nicht weil er gefühlvoll iſt und ge- mütlich. Wo er außer Verkehr mit den Weißen auch all den Gegenſtänden fern geblieben iſt, welche die Kultur der Neuen Welt zugebracht, hat ſich der Kreis ſeiner Vorſtellungen nicht erweitert. Alle ſeine Handlungen ſcheinen nur durch das augenblickliche Bedürfnis beſtimmt zu werden. Er iſt ſchweigſam, verdroſſen, in ſich gekehrt, ſeine Miene iſt ernſt, geheimnisvoll. Wer nicht lange in den Miſſionen gelebt hat und an das Ausſehen der Eingeborenen nicht gewöhnt iſt, hält ihre Trägheit und geiſtige Starrheit leicht für den Aus- druck der Schwermut und des Tiefſinns. Ich habe die Charakterzüge des Indianers und die Ver- änderungen, die ſein Weſen unter der Zucht der Miſſionäre erleidet, ſo ſcharf hervorgehoben, um den einzelnen Beobach- tungen, die den Inhalt dieſes Abſchnittes bilden ſollen, mehr Intereſſe zu geben. Ich beginne mit der Nation der Chay- mas, deren über 15000 in den oben beſchriebenen Miſſionen leben. Dieſe nicht ſehr kriegeriſche Nation, welche Pater Francisco de Pamplona um die Mitte des 17. Jahrhunderts in Zucht zu nehmen anfing, hat gegen Weſt die Cumana- goten, gegen Oſt die Guaraunen, gegen Süd die Kariben zu

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/18>, abgerufen am 25.04.2024.