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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen-
aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen,
weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe
war, durch den Meridian zu gehen. Auf diesem nassen, dicht
bewaldeten Landstriche wurden die Nächte immer finsterer, je
näher wir dem Rio Negro und dem inneren Brasilien kamen.
Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte
besorgen müssen, sich unter den Bäumen zu verirren. Sobald
die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der starken
Strömung auszuweichen, durch den überschwemmten Wald.
So kamen wir an den Zusammenfluß des Temi mit einem
anderen kleinen Flusse, dem Tuamini, dessen Wasser gleichfalls
schwarz ist, und gingen den letzteren gegen Südwest hinauf.
Damit kamen wir auf die Mission Javita zu, die am Tuamini
liegt. In dieser christlichen Niederlassung sollten wir die er-
forderlichen Mittel finden, um unsere Piroge zu Land an
den Rio Negro schaffen zu lassen. Wir kamen in San An-
tonio de Javita
erst um 11 Uhr vormittags an. Ein
an sich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein
furchtsam die kleinen Sagoine sind, hatte uns an der Mün-
dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm,
den die Spritzfische machen, hatte unsere Affen erschreckt, und
einer war ins Wasser gefallen. Da diese Affenart, vielleicht
weil sie ungemein mager ist, sehr schlecht schwimmt, so kostete
es Mühe, ihn zu retten.

Zu unserer Freude trafen wir in Javita einen sehr geistes-
lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten
uns 4 bis 5 Tage in seinem Hause aufhalten, da so lange
zum Transport unseres Fahrzeuges über den Trageplatz
am Pimichin erforderlich war; wir benützten diese Zeit nicht
allein, um uns in der Gegend umzusehen, sondern auch, um
uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir seit zwei Tagen
litten. Wir hatten sehr starkes Jucken in den Fingergelenken
und auf dem Handrücken. Der Missionär sagte uns, das
seien Aradores (Ackerer), die sich in die Haut gegraben. Mit
der Lupe sahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen.
Wegen der Form dieser Furchen heißt das Insekt der Ackerer.
Man ließ eine Mulattin kommen, die sich rühmte, all die
kleinen Tiere, welche sich in die Haut des Menschen graben,
die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus
dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der
Dorfarzt. Sie versprach uns, die Insekten, die uns so schreck-

Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen-
aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen,
weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe
war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht
bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je
näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen.
Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte
beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald
die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken
Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald.
So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem
anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls
ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf.
Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini
liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er-
forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an
den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in San An-
tonio de Javita
erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein
an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein
furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün-
dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm,
den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und
einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht
weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete
es Mühe, ihn zu retten.

Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes-
lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten
uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange
zum Transport unſeres Fahrzeuges über den Trageplatz
am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht
allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um
uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen
litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken
und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das
ſeien Aradores (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit
der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen.
Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der Ackerer.
Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die
kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben,
die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus
dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der
Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck-

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[222/0230] Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen- aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen, weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen. Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald. So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf. Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er- forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in San An- tonio de Javita erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün- dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm, den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete es Mühe, ihn zu retten. Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes- lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange zum Transport unſeres Fahrzeuges über den Trageplatz am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das ſeien Aradores (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen. Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der Ackerer. Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben, die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/230>, abgerufen am 29.03.2024.