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Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849.

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Art überzeugt hatte, versetzte er sich an die Stelle des Schriftstellers und schuf ihm nach. Daher sind seine Vermuthungen oft kühn und gegen die Ueberlieferung gehalten nicht wahrscheinlich, allein stets so beschaffen, dass der Schriftsteller so geschrieben haben könnte, dass man oft wünschen möchte, er habe so geschrieben; der ebenso genialen als unzweifelhaft sicheren Verbesserungen ist eine unzählbare Menge, und wie oft sind sie durch spätere Entdeckungen bestätigt worden. Kein Beispiel ist schlagender als das des Plautus, an welchem er "den glänzendsten Triumph feierte, den eine über alle historische Bedingungen erhabene, eingeborengeniale Divinationsgabe davontragen kann." Denn nicht nur, dass die scheinbar fest begründete Tradition desselben falsch und trüglich sei, hatte er mit sicherem Blick erkannt, sondern unbeirrt durch das täuschende Dunkel dieser Ueberlieferung hatte er das wahre Wesen der Sprache und Verskunst des Plautus erfasst und zu ihrer Herstellung den richtigen Weg gewiesen; wie das Alles durch Ritschls neue Entdeckungen bestätigt worden ist. Obgleich seine Studien sich über den gesammten Kreis der alten Schriftsteller erstreckten, so wandte er sich doch mit Vorliebe den Griechen und namentlich den Dichtern zu. Von diesen aber kann man mit Wahrheit sagen, dass die kritische Behandlung derselben durch ihn begründet worden ist, und dass er im Einzelnen dieselben in einem Masse gefördert hat, wie kein anderer Philolog, man mag an die epischen, lyrischen oder dramatischen Dichter denken. Diese Vielseitigkeit tritt auch in seinen Schriften hervor; und doch war es nicht der eigentliche Trieb zu schriftstellern, der ihn bestimmte. Schriftstellerische Aufgaben, welche er sich selbst gestellt hatte, waren ausser den Werken über Metrik und Grammatik eigentlich nur die Ausgaben des Aeschylus und Plautus - beide hat er nicht vollendet. Mit dem Plautus hatte ihn schon Reiz förmlich verlobt, und die Ausgabe des Trinummus (1800) konnte als Aufgebot gelten; später hat er dem jüngeren Bewerber seine Ansprüche abgetreten, nachdem er durch die Ausgabe der Bacchides (1845) gezeigt, dass die Jugendliebe noch frisch und kräftig geblieben sei. Am Aeschylus aber, der durch die Ausgabe der Eumeniden (1799) angekündigt, und oft verheissen stets erwartet wurde, hat er bis zu seinem Ende fort und fort gearbeitet und konnte sich kein Genüge thun, um dieser Arbeit seines Lebens die möglichste Vollendung zu geben. Wenige Tage vor seinem Tode legte er die Herausgabe seines Aeschylus als Vermächtniss in eine nahe verwandte Hand.

Art überzeugt hatte, versetzte er sich an die Stelle des Schriftstellers und schuf ihm nach. Daher sind seine Vermuthungen oft kühn und gegen die Ueberlieferung gehalten nicht wahrscheinlich, allein stets so beschaffen, dass der Schriftsteller so geschrieben haben könnte, dass man oft wünschen möchte, er habe so geschrieben; der ebenso genialen als unzweifelhaft sicheren Verbesserungen ist eine unzählbare Menge, und wie oft sind sie durch spätere Entdeckungen bestätigt worden. Kein Beispiel ist schlagender als das des Plautus, an welchem er «den glänzendsten Triumph feierte, den eine über alle historische Bedingungen erhabene, eingeborengeniale Divinationsgabe davontragen kann.» Denn nicht nur, dass die scheinbar fest begründete Tradition desselben falsch und trüglich sei, hatte er mit sicherem Blick erkannt, sondern unbeirrt durch das täuschende Dunkel dieser Ueberlieferung hatte er das wahre Wesen der Sprache und Verskunst des Plautus erfasst und zu ihrer Herstellung den richtigen Weg gewiesen; wie das Alles durch Ritschls neue Entdeckungen bestätigt worden ist. Obgleich seine Studien sich über den gesammten Kreis der alten Schriftsteller erstreckten, so wandte er sich doch mit Vorliebe den Griechen und namentlich den Dichtern zu. Von diesen aber kann man mit Wahrheit sagen, dass die kritische Behandlung derselben durch ihn begründet worden ist, und dass er im Einzelnen dieselben in einem Masse gefördert hat, wie kein anderer Philolog, man mag an die epischen, lyrischen oder dramatischen Dichter denken. Diese Vielseitigkeit tritt auch in seinen Schriften hervor; und doch war es nicht der eigentliche Trieb zu schriftstellern, der ihn bestimmte. Schriftstellerische Aufgaben, welche er sich selbst gestellt hatte, waren ausser den Werken über Metrik und Grammatik eigentlich nur die Ausgaben des Aeschylus und Plautus – beide hat er nicht vollendet. Mit dem Plautus hatte ihn schon Reiz förmlich verlobt, und die Ausgabe des Trinummus (1800) konnte als Aufgebot gelten; später hat er dem jüngeren Bewerber seine Ansprüche abgetreten, nachdem er durch die Ausgabe der Bacchides (1845) gezeigt, dass die Jugendliebe noch frisch und kräftig geblieben sei. Am Aeschylus aber, der durch die Ausgabe der Eumeniden (1799) angekündigt, und oft verheissen stets erwartet wurde, hat er bis zu seinem Ende fort und fort gearbeitet und konnte sich kein Genüge thun, um dieser Arbeit seines Lebens die möglichste Vollendung zu geben. Wenige Tage vor seinem Tode legte er die Herausgabe seines Aeschylus als Vermächtniss in eine nahe verwandte Hand.

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Art überzeugt hatte, versetzte er sich an die Stelle des Schriftstellers und schuf ihm nach. Daher sind seine Vermuthungen oft kühn und gegen die Ueberlieferung gehalten nicht wahrscheinlich, allein stets so beschaffen, dass der Schriftsteller so geschrieben haben könnte, dass man oft wünschen möchte, er habe so geschrieben; der ebenso genialen als unzweifelhaft sicheren Verbesserungen ist eine unzählbare Menge, und wie oft sind sie durch spätere Entdeckungen bestätigt worden. Kein Beispiel ist schlagender als das des Plautus, an welchem er «den glänzendsten Triumph feierte, den eine über alle historische Bedingungen erhabene, eingeborengeniale Divinationsgabe davontragen kann.» Denn nicht nur, dass die scheinbar fest begründete Tradition desselben falsch und trüglich sei, hatte er mit sicherem Blick erkannt, sondern unbeirrt durch das täuschende Dunkel dieser Ueberlieferung hatte er das wahre Wesen der Sprache und Verskunst des Plautus erfasst und zu ihrer Herstellung den richtigen Weg gewiesen; wie das Alles durch Ritschls neue Entdeckungen bestätigt worden ist. Obgleich seine Studien sich über den gesammten Kreis der alten Schriftsteller erstreckten, so wandte er sich doch mit Vorliebe den Griechen und namentlich den Dichtern zu. Von diesen aber kann man mit Wahrheit sagen, dass die kritische Behandlung derselben durch ihn begründet worden ist, und dass er im Einzelnen dieselben in einem Masse gefördert hat, wie kein anderer Philolog, man mag an die epischen, lyrischen oder dramatischen Dichter denken. Diese Vielseitigkeit tritt auch in seinen Schriften hervor; und doch war es nicht der eigentliche Trieb zu schriftstellern, der ihn bestimmte. Schriftstellerische Aufgaben, welche er sich selbst gestellt hatte, waren ausser den Werken über Metrik und Grammatik eigentlich nur die Ausgaben des Aeschylus und Plautus &#x2013; beide hat er nicht vollendet. Mit dem Plautus hatte ihn schon Reiz förmlich verlobt, und die Ausgabe des Trinummus (1800) konnte als Aufgebot gelten; später hat er dem jüngeren Bewerber seine Ansprüche abgetreten, nachdem er durch die Ausgabe der Bacchides (1845) gezeigt, dass die Jugendliebe noch frisch und kräftig geblieben sei. Am Aeschylus aber, der durch die Ausgabe der Eumeniden (1799) angekündigt, und oft verheissen stets erwartet wurde, hat er bis zu seinem Ende fort und fort gearbeitet und konnte sich kein Genüge thun, um dieser Arbeit seines Lebens die möglichste Vollendung zu geben. Wenige Tage vor seinem Tode legte er die Herausgabe seines Aeschylus als Vermächtniss in eine nahe verwandte Hand.
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[21/0021] Art überzeugt hatte, versetzte er sich an die Stelle des Schriftstellers und schuf ihm nach. Daher sind seine Vermuthungen oft kühn und gegen die Ueberlieferung gehalten nicht wahrscheinlich, allein stets so beschaffen, dass der Schriftsteller so geschrieben haben könnte, dass man oft wünschen möchte, er habe so geschrieben; der ebenso genialen als unzweifelhaft sicheren Verbesserungen ist eine unzählbare Menge, und wie oft sind sie durch spätere Entdeckungen bestätigt worden. Kein Beispiel ist schlagender als das des Plautus, an welchem er «den glänzendsten Triumph feierte, den eine über alle historische Bedingungen erhabene, eingeborengeniale Divinationsgabe davontragen kann.» Denn nicht nur, dass die scheinbar fest begründete Tradition desselben falsch und trüglich sei, hatte er mit sicherem Blick erkannt, sondern unbeirrt durch das täuschende Dunkel dieser Ueberlieferung hatte er das wahre Wesen der Sprache und Verskunst des Plautus erfasst und zu ihrer Herstellung den richtigen Weg gewiesen; wie das Alles durch Ritschls neue Entdeckungen bestätigt worden ist. Obgleich seine Studien sich über den gesammten Kreis der alten Schriftsteller erstreckten, so wandte er sich doch mit Vorliebe den Griechen und namentlich den Dichtern zu. Von diesen aber kann man mit Wahrheit sagen, dass die kritische Behandlung derselben durch ihn begründet worden ist, und dass er im Einzelnen dieselben in einem Masse gefördert hat, wie kein anderer Philolog, man mag an die epischen, lyrischen oder dramatischen Dichter denken. Diese Vielseitigkeit tritt auch in seinen Schriften hervor; und doch war es nicht der eigentliche Trieb zu schriftstellern, der ihn bestimmte. Schriftstellerische Aufgaben, welche er sich selbst gestellt hatte, waren ausser den Werken über Metrik und Grammatik eigentlich nur die Ausgaben des Aeschylus und Plautus – beide hat er nicht vollendet. Mit dem Plautus hatte ihn schon Reiz förmlich verlobt, und die Ausgabe des Trinummus (1800) konnte als Aufgebot gelten; später hat er dem jüngeren Bewerber seine Ansprüche abgetreten, nachdem er durch die Ausgabe der Bacchides (1845) gezeigt, dass die Jugendliebe noch frisch und kräftig geblieben sei. Am Aeschylus aber, der durch die Ausgabe der Eumeniden (1799) angekündigt, und oft verheissen stets erwartet wurde, hat er bis zu seinem Ende fort und fort gearbeitet und konnte sich kein Genüge thun, um dieser Arbeit seines Lebens die möglichste Vollendung zu geben. Wenige Tage vor seinem Tode legte er die Herausgabe seines Aeschylus als Vermächtniss in eine nahe verwandte Hand.

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Zitationshilfe: Jahn, Otto: Gottfried Herrmann. Eine Gedächnissrede. Leipzig, 1849, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jahn_rede_1849/21>, abgerufen am 29.03.2024.