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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.

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meinem Lebenswandel, der auf die guten Werke, die der rechtschaffene
Ambtsdorf für Hindernisse der Seeligkeit ansieht, einen zu grossen
Werth zu legen scheint? Ja, wenn einer wie Sokrates lebte, dan
erst hätten Sie Recht, ihn für keinen Christen sondern für einen Heiden
zu erklären. Sie können zwar vorschüzen, "man brauche eine Sache5
"wahrhaftig nicht eben zu verstehen um sie zu beurtheilen und Sie
"wären recht gut im Stande (und thäten's die Wahrheit zu sagen
"stets), Voltairen einen Atheisten zu schelten, ungeachtet Sie keinen
"Buchstaben noch von ihm gesehen und ungeachtet er vielmehr einen
"Atheisten, den Verf. des Buchs Systeme de la nature vortreflich10
[242]"widerleget"; Sie können ferner sagen, es sei einmal Ihre Art so,
widerstreitende Dinge zu gebären und z. B. zu sagen "einer könne
"doch ein Atheist sein, wenn er auch einen Got glaube": allein dieses
Recht, dieses jus stolae kömt Ihnen nicht auf der Landstrasse zu,
sondern kaum auf der Kanzel. Sie führten neulich den Spinoza zum15
Beweise, daß man einen Got glauben und läugnen könne, ge-
schikterweise an: allein meinten Sie seine Theorie, so kan doch nur
eines von beiden wahr sein; meinten Sie seinen Karakter (wovon wir
aber gar nicht sprachen, weil Geistliche Sünden, die sie vergeben
können, minder hassen als Irlehren, für die sie keine absolvirende20
Hände anhaben), so ist Ihnen unbekant, daß er ein guter mässiger
Man gewesen, der gewis nur den menschlichen Fehler hatte, daß er
kein Bier trank. -- Freigeister, Philosophen, Heterodox[e], Natura-
listen und Atheisten schnüren Sie in Einen Begrif zusammen wie die
Türken Engländer, Holländer und ieden Europäer Franken nennen.25
Daher trauen Sie iedem, dessen Seele nicht in einer totalen Sonnen-
finsternis der Wahrheit leben wil, Vertheidigung des Selbstmords zu,
obgleich dessen Verwerflichkeit schon Plato ohne Kentnis des Christen-
thums und Rousseau ohne Gebrauch desselben bewiesen. Ja der
Atheist mus, um konsequent zu sein, sich gegen die Selbstentleibung30
noch weit stärker als der Christ erklären. Dies beweisen die Bauern,
die insgesamt als bekante Christen herumgehen und die dennoch den
Selbstmord für gestattet halten, wenn man Sallat und Milch zu-
sammenfrisset. Dadurch "schlipt" offenbar (wie Sie auch selber auf
der Kanzel in Ermangelung eines hebräischen Ausdruks sagten) die35
Milch im geplagten Magen (und das um so mehr, da die Milch auch
schon ohne Essig im Magen gerönne) und der Mensch bringt sich

meinem Lebenswandel, der auf die guten Werke, die der rechtſchaffene
Ambtsdorf für Hinderniſſe der Seeligkeit anſieht, einen zu groſſen
Werth zu legen ſcheint? Ja, wenn einer wie Sokrates lebte, dan
erſt hätten Sie Recht, ihn für keinen Chriſten ſondern für einen Heiden
zu erklären. Sie können zwar vorſchüzen, „man brauche eine Sache5
„wahrhaftig nicht eben zu verſtehen um ſie zu beurtheilen und Sie
„wären recht gut im Stande (und thäten’s die Wahrheit zu ſagen
„ſtets), Voltairen einen Atheiſten zu ſchelten, ungeachtet Sie keinen
„Buchſtaben noch von ihm geſehen und ungeachtet er vielmehr einen
„Atheiſten, den Verf. des Buchs Systeme de la nature vortreflich10
[242]„widerleget“; Sie können ferner ſagen, es ſei einmal Ihre Art ſo,
widerſtreitende Dinge zu gebären und z. B. zu ſagen „einer könne
„doch ein Atheiſt ſein, wenn er auch einen Got glaube“: allein dieſes
Recht, dieſes jus stolae kömt Ihnen nicht auf der Landſtraſſe zu,
ſondern kaum auf der Kanzel. Sie führten neulich den Spinoza zum15
Beweiſe, daß man einen Got glauben und läugnen könne, ge-
ſchikterweiſe an: allein meinten Sie ſeine Theorie, ſo kan doch nur
eines von beiden wahr ſein; meinten Sie ſeinen Karakter (wovon wir
aber gar nicht ſprachen, weil Geiſtliche Sünden, die ſie vergeben
können, minder haſſen als Irlehren, für die ſie keine abſolvirende20
Hände anhaben), ſo iſt Ihnen unbekant, daß er ein guter mäſſiger
Man geweſen, der gewis nur den menſchlichen Fehler hatte, daß er
kein Bier trank. — Freigeiſter, Philoſophen, Heterodox[e], Natura-
liſten und Atheiſten ſchnüren Sie in Einen Begrif zuſammen wie die
Türken Engländer, Holländer und ieden Europäer Franken nennen.25
Daher trauen Sie iedem, deſſen Seele nicht in einer totalen Sonnen-
finſternis der Wahrheit leben wil, Vertheidigung des Selbſtmords zu,
obgleich deſſen Verwerflichkeit ſchon Plato ohne Kentnis des Chriſten-
thums und Rouſſeau ohne Gebrauch deſſelben bewieſen. Ja der
Atheiſt mus, um konſequent zu ſein, ſich gegen die Selbſtentleibung30
noch weit ſtärker als der Chriſt erklären. Dies beweiſen die Bauern,
die insgeſamt als bekante Chriſten herumgehen und die dennoch den
Selbſtmord für geſtattet halten, wenn man Sallat und Milch zu-
ſammenfriſſet. Dadurch „ſchlipt“ offenbar (wie Sie auch ſelber auf
der Kanzel in Ermangelung eines hebräiſchen Ausdruks ſagten) die35
Milch im geplagten Magen (und das um ſo mehr, da die Milch auch
ſchon ohne Eſſig im Magen gerönne) und der Menſch bringt ſich

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[228/0253] meinem Lebenswandel, der auf die guten Werke, die der rechtſchaffene Ambtsdorf für Hinderniſſe der Seeligkeit anſieht, einen zu groſſen Werth zu legen ſcheint? Ja, wenn einer wie Sokrates lebte, dan erſt hätten Sie Recht, ihn für keinen Chriſten ſondern für einen Heiden zu erklären. Sie können zwar vorſchüzen, „man brauche eine Sache 5 „wahrhaftig nicht eben zu verſtehen um ſie zu beurtheilen und Sie „wären recht gut im Stande (und thäten’s die Wahrheit zu ſagen „ſtets), Voltairen einen Atheiſten zu ſchelten, ungeachtet Sie keinen „Buchſtaben noch von ihm geſehen und ungeachtet er vielmehr einen „Atheiſten, den Verf. des Buchs Systeme de la nature vortreflich 10 „widerleget“; Sie können ferner ſagen, es ſei einmal Ihre Art ſo, widerſtreitende Dinge zu gebären und z. B. zu ſagen „einer könne „doch ein Atheiſt ſein, wenn er auch einen Got glaube“: allein dieſes Recht, dieſes jus stolae kömt Ihnen nicht auf der Landſtraſſe zu, ſondern kaum auf der Kanzel. Sie führten neulich den Spinoza zum 15 Beweiſe, daß man einen Got glauben und läugnen könne, ge- ſchikterweiſe an: allein meinten Sie ſeine Theorie, ſo kan doch nur eines von beiden wahr ſein; meinten Sie ſeinen Karakter (wovon wir aber gar nicht ſprachen, weil Geiſtliche Sünden, die ſie vergeben können, minder haſſen als Irlehren, für die ſie keine abſolvirende 20 Hände anhaben), ſo iſt Ihnen unbekant, daß er ein guter mäſſiger Man geweſen, der gewis nur den menſchlichen Fehler hatte, daß er kein Bier trank. — Freigeiſter, Philoſophen, Heterodox[e], Natura- liſten und Atheiſten ſchnüren Sie in Einen Begrif zuſammen wie die Türken Engländer, Holländer und ieden Europäer Franken nennen. 25 Daher trauen Sie iedem, deſſen Seele nicht in einer totalen Sonnen- finſternis der Wahrheit leben wil, Vertheidigung des Selbſtmords zu, obgleich deſſen Verwerflichkeit ſchon Plato ohne Kentnis des Chriſten- thums und Rouſſeau ohne Gebrauch deſſelben bewieſen. Ja der Atheiſt mus, um konſequent zu ſein, ſich gegen die Selbſtentleibung 30 noch weit ſtärker als der Chriſt erklären. Dies beweiſen die Bauern, die insgeſamt als bekante Chriſten herumgehen und die dennoch den Selbſtmord für geſtattet halten, wenn man Sallat und Milch zu- ſammenfriſſet. Dadurch „ſchlipt“ offenbar (wie Sie auch ſelber auf der Kanzel in Ermangelung eines hebräiſchen Ausdruks ſagten) die 35 Milch im geplagten Magen (und das um ſo mehr, da die Milch auch ſchon ohne Eſſig im Magen gerönne) und der Menſch bringt ſich [242]

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T14:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T14:52:17Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/253>, abgerufen am 25.04.2024.