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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888.

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Sechstes Buch.
Salvator gefragt: "Was sagt Ihr von unserm Raphael? Haltet
Ihr ihn nicht auch für den Besten, jetzt wo Ihr das Gute und
Schöne in Italien gesehen habt?" Jener aber wiegte etwas
cerimoniös das Haupt und erwiderte: "Raphael (um Euch die
Wahrheit zu sagen, denn ich bin gern freimüthig und offen)
muss ich gestehn, gefällt mir gar nicht (stago per dir, che nol
me piase niente
)". "Dann also, bemerkte hierauf Salvator, ist in
Italien wol keiner nach Eurem Geschmack, denn ihm geben wir
die Krone." D. Diego aber rief: "In Venedig findet man das
Gute und Schöne: ihrem Pinsel gebe ich den ersten Platz; Tizian
ists der das Banner trägt" 1).

A Venecia se trova el bon, e'l belo:
Mi dago el primo liogo a quel penelo:
Tician xe quel, che porta la bandiera.

Diese Aeusserung steht in Einklang mit des Malers zwei-
maligem Aufenthalt in Venedig, seinen Studien, Ankäufen und
seiner Verwandtschaft mit dieser Schule. Er und Raphael
waren in gewisser Weise Antipoden. Bei Raphael liegt der
Schwerpunkt so sehr in der Zeichnung, dass man glauben konnte,
ihn aus seinen Zeichnungen hinreichend und besser kennen zu
lernen als aus seinen Gemälden; von Velazquez giebt es äusserst
wenige, flüchtige Zeichnungen; bei kaum einem Maler geht so
viel wie bei Raphael, bei keinem so wenig wie bei Velazquez
in eine farblose Wiedergabe ihrer Gemälde über.

Man kann indess Raphael nach Gebühr schätzen und sogar
lieben, auch wenn man ihn sich nicht zum Vorbild nimmt. Ein
Maler kann der Meinung sein, dass es Aufgaben seiner Kunst
giebt, die Raphael sich nicht gestellt hat, Malerisches in der
sichtbaren Erscheinung, das erst nach ihm aufgeschlossen worden
ist; er folgt der Richtung seiner Zeit, wenn er auch von dem
Werth ihrer Ziele, verglichen mit denen der Vergangenheit,
seine eignen Ansichten haben kann. In diesem Sinne sprach sich
Ribera aus, der dem Raphael nicht näher stand als Velazquez.

Hier nun aber scheint Velazquez mit dürren Worten zu
sagen, dass er sich aus Raphael nichts mache. Wäre es wahr,
es thäte uns leid um Velazquez. Vielleicht aber hat er etwas

1) Einen ähnlichen Ausspruch berichtet Boschini von Domenico da Passignano,
p. 145, und Martinez (Discursos 108) weiss von einem geflügelten Wort Paolo
Veronese's in Rom: Buena la habemos hecho en venir aca a ver cosa tan poca,
das er auch in seiner authentischen, abgeschwächten Fassung giebt.

Sechstes Buch.
Salvator gefragt: „Was sagt Ihr von unserm Raphael? Haltet
Ihr ihn nicht auch für den Besten, jetzt wo Ihr das Gute und
Schöne in Italien gesehen habt?“ Jener aber wiegte etwas
cerimoniös das Haupt und erwiderte: „Raphael (um Euch die
Wahrheit zu sagen, denn ich bin gern freimüthig und offen)
muss ich gestehn, gefällt mir gar nicht (stago per dir, che nol
me piase niente
)“. „Dann also, bemerkte hierauf Salvator, ist in
Italien wol keiner nach Eurem Geschmack, denn ihm geben wir
die Krone.“ D. Diego aber rief: „In Venedig findet man das
Gute und Schöne: ihrem Pinsel gebe ich den ersten Platz; Tizian
ists der das Banner trägt“ 1).

A Venecia se trova el bon, e’l belo:
Mi dago el primo liogo a quel penelo:
Tician xè quel, che porta la bandiera.

Diese Aeusserung steht in Einklang mit des Malers zwei-
maligem Aufenthalt in Venedig, seinen Studien, Ankäufen und
seiner Verwandtschaft mit dieser Schule. Er und Raphael
waren in gewisser Weise Antipoden. Bei Raphael liegt der
Schwerpunkt so sehr in der Zeichnung, dass man glauben konnte,
ihn aus seinen Zeichnungen hinreichend und besser kennen zu
lernen als aus seinen Gemälden; von Velazquez giebt es äusserst
wenige, flüchtige Zeichnungen; bei kaum einem Maler geht so
viel wie bei Raphael, bei keinem so wenig wie bei Velazquez
in eine farblose Wiedergabe ihrer Gemälde über.

Man kann indess Raphael nach Gebühr schätzen und sogar
lieben, auch wenn man ihn sich nicht zum Vorbild nimmt. Ein
Maler kann der Meinung sein, dass es Aufgaben seiner Kunst
giebt, die Raphael sich nicht gestellt hat, Malerisches in der
sichtbaren Erscheinung, das erst nach ihm aufgeschlossen worden
ist; er folgt der Richtung seiner Zeit, wenn er auch von dem
Werth ihrer Ziele, verglichen mit denen der Vergangenheit,
seine eignen Ansichten haben kann. In diesem Sinne sprach sich
Ribera aus, der dem Raphael nicht näher stand als Velazquez.

Hier nun aber scheint Velazquez mit dürren Worten zu
sagen, dass er sich aus Raphael nichts mache. Wäre es wahr,
es thäte uns leid um Velazquez. Vielleicht aber hat er etwas

1) Einen ähnlichen Ausspruch berichtet Boschini von Domenico da Passignano,
p. 145, und Martinez (Discursos 108) weiss von einem geflügelten Wort Paolo
Veronese’s in Rom: Buena la habemos hecho en venir acá á ver cosa tan poca,
das er auch in seiner authentischen, abgeschwächten Fassung giebt.
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[176/0196] Sechstes Buch. Salvator gefragt: „Was sagt Ihr von unserm Raphael? Haltet Ihr ihn nicht auch für den Besten, jetzt wo Ihr das Gute und Schöne in Italien gesehen habt?“ Jener aber wiegte etwas cerimoniös das Haupt und erwiderte: „Raphael (um Euch die Wahrheit zu sagen, denn ich bin gern freimüthig und offen) muss ich gestehn, gefällt mir gar nicht (stago per dir, che nol me piase niente)“. „Dann also, bemerkte hierauf Salvator, ist in Italien wol keiner nach Eurem Geschmack, denn ihm geben wir die Krone.“ D. Diego aber rief: „In Venedig findet man das Gute und Schöne: ihrem Pinsel gebe ich den ersten Platz; Tizian ists der das Banner trägt“ 1). A Venecia se trova el bon, e’l belo: Mi dago el primo liogo a quel penelo: Tician xè quel, che porta la bandiera. Diese Aeusserung steht in Einklang mit des Malers zwei- maligem Aufenthalt in Venedig, seinen Studien, Ankäufen und seiner Verwandtschaft mit dieser Schule. Er und Raphael waren in gewisser Weise Antipoden. Bei Raphael liegt der Schwerpunkt so sehr in der Zeichnung, dass man glauben konnte, ihn aus seinen Zeichnungen hinreichend und besser kennen zu lernen als aus seinen Gemälden; von Velazquez giebt es äusserst wenige, flüchtige Zeichnungen; bei kaum einem Maler geht so viel wie bei Raphael, bei keinem so wenig wie bei Velazquez in eine farblose Wiedergabe ihrer Gemälde über. Man kann indess Raphael nach Gebühr schätzen und sogar lieben, auch wenn man ihn sich nicht zum Vorbild nimmt. Ein Maler kann der Meinung sein, dass es Aufgaben seiner Kunst giebt, die Raphael sich nicht gestellt hat, Malerisches in der sichtbaren Erscheinung, das erst nach ihm aufgeschlossen worden ist; er folgt der Richtung seiner Zeit, wenn er auch von dem Werth ihrer Ziele, verglichen mit denen der Vergangenheit, seine eignen Ansichten haben kann. In diesem Sinne sprach sich Ribera aus, der dem Raphael nicht näher stand als Velazquez. Hier nun aber scheint Velazquez mit dürren Worten zu sagen, dass er sich aus Raphael nichts mache. Wäre es wahr, es thäte uns leid um Velazquez. Vielleicht aber hat er etwas 1) Einen ähnlichen Ausspruch berichtet Boschini von Domenico da Passignano, p. 145, und Martinez (Discursos 108) weiss von einem geflügelten Wort Paolo Veronese’s in Rom: Buena la habemos hecho en venir acá á ver cosa tan poca, das er auch in seiner authentischen, abgeschwächten Fassung giebt.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888/196>, abgerufen am 18.04.2024.