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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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der reinen practischen Vernunft.
vollen Freunde Nutzen schaffen konnte, blos darum un-
terließ, um sich in Geheim in seinen eigenen Augen
nicht verachten zu dürfen? Hält nicht einen rechtschaffe-
nen Mann im größten Unglücke des Lebens, das er
vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die
Pflicht wegsetzen können, noch das Bewußtseyn aufrecht,
daß er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer
Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich nicht vor
sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der
Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe? Dieser Trost
ist nicht Glückseligkeit, auch nicht der mindeste Theil
derselben. Denn niemand wird sich die Gelegenheit dazu,
auch vielleicht nicht einmal ein Leben in solchen Umstän-
den wünschen. Aber er lebt, und kann es nicht erdul-
den, in seinen eigenen Augen des Lebens unwürdig zu
seyn. Diese innere Beruhigung ist also blos negativ, in
Ansehung alles dessen, was das Leben angenehm ma-
chen mag; nemlich sie ist die Abhaltung der Gefahr, im
persönlichen Werthe zu sinken, nachdem der seines Zu-
standes von ihm schon gänzlich aufgegeben worden.
Sie ist die Wirkung von einer Achtung für etwas ganz
anderes, als das Leben, womit in Vergleichung und
Entgegensetzung, das Leben vielmehr, mit aller seiner
Annehmlichkeit, gar keinen Werth hat. Er lebt nur
noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindesten
Geschmack findet.

So

der reinen practiſchen Vernunft.
vollen Freunde Nutzen ſchaffen konnte, blos darum un-
terließ, um ſich in Geheim in ſeinen eigenen Augen
nicht verachten zu duͤrfen? Haͤlt nicht einen rechtſchaffe-
nen Mann im groͤßten Ungluͤcke des Lebens, das er
vermeiden konnte, wenn er ſich nur haͤtte uͤber die
Pflicht wegſetzen koͤnnen, noch das Bewußtſeyn aufrecht,
daß er die Menſchheit in ſeiner Perſon doch in ihrer
Wuͤrde erhalten und geehrt habe, daß er ſich nicht vor
ſich ſelbſt zu ſchaͤmen und den inneren Anblick der
Selbſtpruͤfung zu ſcheuen Urſache habe? Dieſer Troſt
iſt nicht Gluͤckſeligkeit, auch nicht der mindeſte Theil
derſelben. Denn niemand wird ſich die Gelegenheit dazu,
auch vielleicht nicht einmal ein Leben in ſolchen Umſtaͤn-
den wuͤnſchen. Aber er lebt, und kann es nicht erdul-
den, in ſeinen eigenen Augen des Lebens unwuͤrdig zu
ſeyn. Dieſe innere Beruhigung iſt alſo blos negativ, in
Anſehung alles deſſen, was das Leben angenehm ma-
chen mag; nemlich ſie iſt die Abhaltung der Gefahr, im
perſoͤnlichen Werthe zu ſinken, nachdem der ſeines Zu-
ſtandes von ihm ſchon gaͤnzlich aufgegeben worden.
Sie iſt die Wirkung von einer Achtung fuͤr etwas ganz
anderes, als das Leben, womit in Vergleichung und
Entgegenſetzung, das Leben vielmehr, mit aller ſeiner
Annehmlichkeit, gar keinen Werth hat. Er lebt nur
noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindeſten
Geſchmack findet.

So
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[157/0165] der reinen practiſchen Vernunft. vollen Freunde Nutzen ſchaffen konnte, blos darum un- terließ, um ſich in Geheim in ſeinen eigenen Augen nicht verachten zu duͤrfen? Haͤlt nicht einen rechtſchaffe- nen Mann im groͤßten Ungluͤcke des Lebens, das er vermeiden konnte, wenn er ſich nur haͤtte uͤber die Pflicht wegſetzen koͤnnen, noch das Bewußtſeyn aufrecht, daß er die Menſchheit in ſeiner Perſon doch in ihrer Wuͤrde erhalten und geehrt habe, daß er ſich nicht vor ſich ſelbſt zu ſchaͤmen und den inneren Anblick der Selbſtpruͤfung zu ſcheuen Urſache habe? Dieſer Troſt iſt nicht Gluͤckſeligkeit, auch nicht der mindeſte Theil derſelben. Denn niemand wird ſich die Gelegenheit dazu, auch vielleicht nicht einmal ein Leben in ſolchen Umſtaͤn- den wuͤnſchen. Aber er lebt, und kann es nicht erdul- den, in ſeinen eigenen Augen des Lebens unwuͤrdig zu ſeyn. Dieſe innere Beruhigung iſt alſo blos negativ, in Anſehung alles deſſen, was das Leben angenehm ma- chen mag; nemlich ſie iſt die Abhaltung der Gefahr, im perſoͤnlichen Werthe zu ſinken, nachdem der ſeines Zu- ſtandes von ihm ſchon gaͤnzlich aufgegeben worden. Sie iſt die Wirkung von einer Achtung fuͤr etwas ganz anderes, als das Leben, womit in Vergleichung und Entgegenſetzung, das Leben vielmehr, mit aller ſeiner Annehmlichkeit, gar keinen Werth hat. Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht weil er am Leben den mindeſten Geſchmack findet. So

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/165>, abgerufen am 24.04.2024.