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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. I. B. III. Hauptst. Von den Triebfedern
sich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden gestürzt.
Eben so haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist
(oder sich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle
eines ehrlichen Mannes versetzt) das moralische Gesetz
vor, an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners er-
kennt, so fort verläßt seine practische Vernunft (im Ur-
theil über das, was von ihm geschehen sollte) den Vor-
theil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtung für
seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit), und
der Vortheil wird nun von jedermann, nachdem er von
allem Anhängsel der Vernunft (welche nur gänzlich
auf der Seite der Pflicht ist) abgesondert und gewaschen
worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in
anderen Fällen in Verbindung zu treten, nur nicht, wo
er dem moralischen Gesetze, welches die Vernunft nie-
mals verläßt, sondern sich innigst damit vereinigt, zu-
wider seyn könnte.

Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeitsprin-
cips von dem der Sittlichkeit, ist darum nicht so fort
Entgegensetzung beyder, und die reine practische Ver-
nunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückse-
ligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die
Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen. Es kann
sogar in gewissem Betracht Pflicht seyn, für seine Glück-
seligkeit zu sorgen; theils weil sie (wozu Geschicklichkeit,
Gesundheit, Reichthum gehört) Mittel zu Erfüllung
seiner Pflicht enthält, theils weil der Mangel derselben

(z.

I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern
ſich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden geſtuͤrzt.
Eben ſo haltet dem, der ſonſt ein ehrlicher Mann iſt
(oder ſich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle
eines ehrlichen Mannes verſetzt) das moraliſche Geſetz
vor, an dem er die Nichtswuͤrdigkeit eines Luͤgners er-
kennt, ſo fort verlaͤßt ſeine practiſche Vernunft (im Ur-
theil uͤber das, was von ihm geſchehen ſollte) den Vor-
theil, vereinigt ſich mit dem, was ihm die Achtung fuͤr
ſeine eigene Perſon erhaͤlt (der Wahrhaftigkeit), und
der Vortheil wird nun von jedermann, nachdem er von
allem Anhaͤngſel der Vernunft (welche nur gaͤnzlich
auf der Seite der Pflicht iſt) abgeſondert und gewaſchen
worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in
anderen Faͤllen in Verbindung zu treten, nur nicht, wo
er dem moraliſchen Geſetze, welches die Vernunft nie-
mals verlaͤßt, ſondern ſich innigſt damit vereinigt, zu-
wider ſeyn koͤnnte.

Aber dieſe Unterſcheidung des Gluͤckſeligkeitsprin-
cips von dem der Sittlichkeit, iſt darum nicht ſo fort
Entgegenſetzung beyder, und die reine practiſche Ver-
nunft will nicht, man ſolle die Anſpruͤche auf Gluͤckſe-
ligkeit aufgeben, ſondern nur, ſo bald von Pflicht die
Rede iſt, darauf gar nicht Ruͤckſicht nehmen. Es kann
ſogar in gewiſſem Betracht Pflicht ſeyn, fuͤr ſeine Gluͤck-
ſeligkeit zu ſorgen; theils weil ſie (wozu Geſchicklichkeit,
Geſundheit, Reichthum gehoͤrt) Mittel zu Erfuͤllung
ſeiner Pflicht enthaͤlt, theils weil der Mangel derſelben

(z.
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[166/0174] I. Th. I. B. III. Hauptſt. Von den Triebfedern ſich mit dem Alkali, und jener wird zu Boden geſtuͤrzt. Eben ſo haltet dem, der ſonſt ein ehrlicher Mann iſt (oder ſich doch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehrlichen Mannes verſetzt) das moraliſche Geſetz vor, an dem er die Nichtswuͤrdigkeit eines Luͤgners er- kennt, ſo fort verlaͤßt ſeine practiſche Vernunft (im Ur- theil uͤber das, was von ihm geſchehen ſollte) den Vor- theil, vereinigt ſich mit dem, was ihm die Achtung fuͤr ſeine eigene Perſon erhaͤlt (der Wahrhaftigkeit), und der Vortheil wird nun von jedermann, nachdem er von allem Anhaͤngſel der Vernunft (welche nur gaͤnzlich auf der Seite der Pflicht iſt) abgeſondert und gewaſchen worden, gewogen, um mit der Vernunft noch wohl in anderen Faͤllen in Verbindung zu treten, nur nicht, wo er dem moraliſchen Geſetze, welches die Vernunft nie- mals verlaͤßt, ſondern ſich innigſt damit vereinigt, zu- wider ſeyn koͤnnte. Aber dieſe Unterſcheidung des Gluͤckſeligkeitsprin- cips von dem der Sittlichkeit, iſt darum nicht ſo fort Entgegenſetzung beyder, und die reine practiſche Ver- nunft will nicht, man ſolle die Anſpruͤche auf Gluͤckſe- ligkeit aufgeben, ſondern nur, ſo bald von Pflicht die Rede iſt, darauf gar nicht Ruͤckſicht nehmen. Es kann ſogar in gewiſſem Betracht Pflicht ſeyn, fuͤr ſeine Gluͤck- ſeligkeit zu ſorgen; theils weil ſie (wozu Geſchicklichkeit, Geſundheit, Reichthum gehoͤrt) Mittel zu Erfuͤllung ſeiner Pflicht enthaͤlt, theils weil der Mangel derſelben (z.

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/174>, abgerufen am 24.04.2024.