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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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der rein. Vern. in Best. des Begr. vom höchst. Gut.

Man muß bedauren, daß die Scharfsinnigkeit die-
fer Männer (die man doch zugleich darüber bewundern
muß, daß sie in so frühen Zeiten schon alle erdenkliche
Wege philosophischer Eroberungen versuchten) unglück-
lich angewandt war, zwischen äußerst ungleichartigen
Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend,
Identität zu ergrübeln. Allein es war dem dialectischen
Geiste ihrer Zeiten angemessen, was auch jetzt biswei-
len subtile Köpfe verleitet, wesentliche und nie zu ver-
einigende Unterschiede in Principien dadurch aufzuhe-
ben, daß man sie in Wortstreit zu verwandeln sucht,
und so, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos
unter verschiedenen Benennungen erkünstelt, und die-
ses trifft gemeiniglich solche Fäile, wo die Vereinigung
ungleichartiger Gründe so tief oder hoch liegt, oder
eine so gänzliche Umänderung der sonst im philosophi-
schen System angenommenen Lehren erfodern würde,
daß man Scheu trägt sich in den realen Unterschied tief
einzulassen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For-
malien behandelt.

Indem beide Schulen Einerleyheit der practischen
Principien der Tugend und Glückseligkeit zu ergrübeln
suchten, so waren sie darum nicht unter sich einhellig,
wie sie diese Identität herauszwingen wollten, sondern
schieden sich in unendliche Weiten von einander, indem
die eine ihr Princip auf der ästhetischen, die andere
auf der logischen Seite, jene im Bewußtseyn der sinn-

lichen
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der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.

Man muß bedauren, daß die Scharfſinnigkeit die-
fer Maͤnner (die man doch zugleich daruͤber bewundern
muß, daß ſie in ſo fruͤhen Zeiten ſchon alle erdenkliche
Wege philoſophiſcher Eroberungen verſuchten) ungluͤck-
lich angewandt war, zwiſchen aͤußerſt ungleichartigen
Begriffen, dem der Gluͤckſeligkeit und dem der Tugend,
Identitaͤt zu ergruͤbeln. Allein es war dem dialectiſchen
Geiſte ihrer Zeiten angemeſſen, was auch jetzt biswei-
len ſubtile Koͤpfe verleitet, weſentliche und nie zu ver-
einigende Unterſchiede in Principien dadurch aufzuhe-
ben, daß man ſie in Wortſtreit zu verwandeln ſucht,
und ſo, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos
unter verſchiedenen Benennungen erkuͤnſtelt, und die-
ſes trifft gemeiniglich ſolche Faͤile, wo die Vereinigung
ungleichartiger Gruͤnde ſo tief oder hoch liegt, oder
eine ſo gaͤnzliche Umaͤnderung der ſonſt im philoſophi-
ſchen Syſtem angenommenen Lehren erfodern wuͤrde,
daß man Scheu traͤgt ſich in den realen Unterſchied tief
einzulaſſen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For-
malien behandelt.

Indem beide Schulen Einerleyheit der practiſchen
Principien der Tugend und Gluͤckſeligkeit zu ergruͤbeln
ſuchten, ſo waren ſie darum nicht unter ſich einhellig,
wie ſie dieſe Identitaͤt herauszwingen wollten, ſondern
ſchieden ſich in unendliche Weiten von einander, indem
die eine ihr Princip auf der aͤſthetiſchen, die andere
auf der logiſchen Seite, jene im Bewußtſeyn der ſinn-

lichen
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[201/0209] der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut. Man muß bedauren, daß die Scharfſinnigkeit die- fer Maͤnner (die man doch zugleich daruͤber bewundern muß, daß ſie in ſo fruͤhen Zeiten ſchon alle erdenkliche Wege philoſophiſcher Eroberungen verſuchten) ungluͤck- lich angewandt war, zwiſchen aͤußerſt ungleichartigen Begriffen, dem der Gluͤckſeligkeit und dem der Tugend, Identitaͤt zu ergruͤbeln. Allein es war dem dialectiſchen Geiſte ihrer Zeiten angemeſſen, was auch jetzt biswei- len ſubtile Koͤpfe verleitet, weſentliche und nie zu ver- einigende Unterſchiede in Principien dadurch aufzuhe- ben, daß man ſie in Wortſtreit zu verwandeln ſucht, und ſo, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos unter verſchiedenen Benennungen erkuͤnſtelt, und die- ſes trifft gemeiniglich ſolche Faͤile, wo die Vereinigung ungleichartiger Gruͤnde ſo tief oder hoch liegt, oder eine ſo gaͤnzliche Umaͤnderung der ſonſt im philoſophi- ſchen Syſtem angenommenen Lehren erfodern wuͤrde, daß man Scheu traͤgt ſich in den realen Unterſchied tief einzulaſſen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For- malien behandelt. Indem beide Schulen Einerleyheit der practiſchen Principien der Tugend und Gluͤckſeligkeit zu ergruͤbeln ſuchten, ſo waren ſie darum nicht unter ſich einhellig, wie ſie dieſe Identitaͤt herauszwingen wollten, ſondern ſchieden ſich in unendliche Weiten von einander, indem die eine ihr Princip auf der aͤſthetiſchen, die andere auf der logiſchen Seite, jene im Bewußtſeyn der ſinn- lichen N 5

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/209>, abgerufen am 18.04.2024.