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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik
lichen Bedürfniß, die andere in der Unabhängigkeit der
practischen Vernunft von allen sinnlichen Bestimmungs-
gründen setzte. Der Begriff der Tugend lag, nach
dem Epicuräer, schon in der Maxime seine eigene Glück-
seligkeit zu befördern; das Gefühl der Glückseligkeit
war dagegen nach dem Stoiker schon im Bewußtseyn
seiner Tugend enthalten. Was aber in einem andern
Begriffe enthalten ist, ist zwar mit einem Theile des
Enthaltenden, aber nicht mit dem Ganzen einerley
und zween Ganze können überdem specifisch von einan-
der unterschieden seyn, ob sie zwar aus eben demselben
Stoffe bestehen, wenn nemlich die Theile in beiden auf
ganz verschiedene Art zu einem Ganzen verbunden wer-
den. Der Stoiker behauptete, Tugend sey das ganze
höchste Gut,
und Glückseligkeit nur das Bewußtseyn
des Besitzes derselben, als zum Zustand des Subjects
gehörig. Der Epicuräer behauptete, Glückseligkeit sey
das ganze höchste Gut, und Tugend nur die Form der
Maxime sich um sie zu bewerben, nemlich im vernünf-
tigen Gebrauche der Mittel zu derselben.

Nun ist aber aus der Analytik klar, daß die Ma-
ximen der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit in
Ansehung ihres obersten practischen Princips ganz un-
gleichartig sind, und, weit gefehlt, einhellig zu seyn,
ob sie gleich zu einem höchsten Guten gehören, um das
letztere möglich zu machen, einander in demselben Sub-
jecte gar sehr einschränken und Abbruch thun. Also

bleibt

I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
lichen Beduͤrfniß, die andere in der Unabhaͤngigkeit der
practiſchen Vernunft von allen ſinnlichen Beſtimmungs-
gruͤnden ſetzte. Der Begriff der Tugend lag, nach
dem Epicuraͤer, ſchon in der Maxime ſeine eigene Gluͤck-
ſeligkeit zu befoͤrdern; das Gefuͤhl der Gluͤckſeligkeit
war dagegen nach dem Stoiker ſchon im Bewußtſeyn
ſeiner Tugend enthalten. Was aber in einem andern
Begriffe enthalten iſt, iſt zwar mit einem Theile des
Enthaltenden, aber nicht mit dem Ganzen einerley
und zween Ganze koͤnnen uͤberdem ſpecifiſch von einan-
der unterſchieden ſeyn, ob ſie zwar aus eben demſelben
Stoffe beſtehen, wenn nemlich die Theile in beiden auf
ganz verſchiedene Art zu einem Ganzen verbunden wer-
den. Der Stoiker behauptete, Tugend ſey das ganze
hoͤchſte Gut,
und Gluͤckſeligkeit nur das Bewußtſeyn
des Beſitzes derſelben, als zum Zuſtand des Subjects
gehoͤrig. Der Epicuraͤer behauptete, Gluͤckſeligkeit ſey
das ganze hoͤchſte Gut, und Tugend nur die Form der
Maxime ſich um ſie zu bewerben, nemlich im vernuͤnf-
tigen Gebrauche der Mittel zu derſelben.

Nun iſt aber aus der Analytik klar, daß die Ma-
ximen der Tugend und die der eigenen Gluͤckſeligkeit in
Anſehung ihres oberſten practiſchen Princips ganz un-
gleichartig ſind, und, weit gefehlt, einhellig zu ſeyn,
ob ſie gleich zu einem hoͤchſten Guten gehoͤren, um das
letztere moͤglich zu machen, einander in demſelben Sub-
jecte gar ſehr einſchraͤnken und Abbruch thun. Alſo

bleibt
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[202/0210] I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik lichen Beduͤrfniß, die andere in der Unabhaͤngigkeit der practiſchen Vernunft von allen ſinnlichen Beſtimmungs- gruͤnden ſetzte. Der Begriff der Tugend lag, nach dem Epicuraͤer, ſchon in der Maxime ſeine eigene Gluͤck- ſeligkeit zu befoͤrdern; das Gefuͤhl der Gluͤckſeligkeit war dagegen nach dem Stoiker ſchon im Bewußtſeyn ſeiner Tugend enthalten. Was aber in einem andern Begriffe enthalten iſt, iſt zwar mit einem Theile des Enthaltenden, aber nicht mit dem Ganzen einerley und zween Ganze koͤnnen uͤberdem ſpecifiſch von einan- der unterſchieden ſeyn, ob ſie zwar aus eben demſelben Stoffe beſtehen, wenn nemlich die Theile in beiden auf ganz verſchiedene Art zu einem Ganzen verbunden wer- den. Der Stoiker behauptete, Tugend ſey das ganze hoͤchſte Gut, und Gluͤckſeligkeit nur das Bewußtſeyn des Beſitzes derſelben, als zum Zuſtand des Subjects gehoͤrig. Der Epicuraͤer behauptete, Gluͤckſeligkeit ſey das ganze hoͤchſte Gut, und Tugend nur die Form der Maxime ſich um ſie zu bewerben, nemlich im vernuͤnf- tigen Gebrauche der Mittel zu derſelben. Nun iſt aber aus der Analytik klar, daß die Ma- ximen der Tugend und die der eigenen Gluͤckſeligkeit in Anſehung ihres oberſten practiſchen Princips ganz un- gleichartig ſind, und, weit gefehlt, einhellig zu ſeyn, ob ſie gleich zu einem hoͤchſten Guten gehoͤren, um das letztere moͤglich zu machen, einander in demſelben Sub- jecte gar ſehr einſchraͤnken und Abbruch thun. Alſo bleibt

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/210>, abgerufen am 24.04.2024.