Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik
muß es befremden, daß gleichwol die Philosophen, al-
ter so wol, als neuer Zeiten, die Glückseligkeit mit
der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in
diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden, oder
sich ihrer bewußt zu seyn haben überreden können. Denn
Epikur sowol, als die Stoiker, erhoben die Glückselig-
keit, die aus dem Bewußtseyn der Tugend im Leben ent-
springe, über alles, und der erstere war in seinen pra-
ctischen Vorschriften nicht so niedrig gesinnt, als man
aus den Principien seiner Theorie, die er zum Erklären,
nicht zum Handeln brauchte, schließen möchte, oder,
wie sie viele, durch den Ausdruck Wollust, für Zufrie-
denheit, verleitet, ausdeuteten, sondern rechnete die
uneigennützigste Ausübung des Guten mit zu den Ge-
nußarten der innigsten Freude, und die Gnügsamkeit und
Bändigung der Neigungen, so wie sie immer der streng-
ste Moralphilosoph fodern mag, gehörte mit zu seinem
Plane eines Vergnügens (er verstand darunter das
stets fröhliche Herz); wobey er von den Stoikern vor-
nemlich nur darin abwich, daß er in diesem Vergnü-
gen den Bewegungsgrund setzte, welches die letztern,
und zwar mit Recht, verweigerten. Denn einestheils
fiel der tugendhafte Epicur, so wie noch jetzt viele mo-
ralisch wohlgesinnte, obgleich über ihre Principien nicht
tief genug nachdenkende Männer, in den Fehler, die
tugendhafte Gesinnung in denen Personen schon voraus-
zusetzen, für die er die Triebfeder zur Tugend zuerst an-

geben

I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
muß es befremden, daß gleichwol die Philoſophen, al-
ter ſo wol, als neuer Zeiten, die Gluͤckſeligkeit mit
der Tugend in ganz geziemender Proportion ſchon in
dieſem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden, oder
ſich ihrer bewußt zu ſeyn haben uͤberreden koͤnnen. Denn
Epikur ſowol, als die Stoiker, erhoben die Gluͤckſelig-
keit, die aus dem Bewußtſeyn der Tugend im Leben ent-
ſpringe, uͤber alles, und der erſtere war in ſeinen pra-
ctiſchen Vorſchriften nicht ſo niedrig geſinnt, als man
aus den Principien ſeiner Theorie, die er zum Erklaͤren,
nicht zum Handeln brauchte, ſchließen moͤchte, oder,
wie ſie viele, durch den Ausdruck Wolluſt, fuͤr Zufrie-
denheit, verleitet, ausdeuteten, ſondern rechnete die
uneigennuͤtzigſte Ausuͤbung des Guten mit zu den Ge-
nußarten der innigſten Freude, und die Gnuͤgſamkeit und
Baͤndigung der Neigungen, ſo wie ſie immer der ſtreng-
ſte Moralphiloſoph fodern mag, gehoͤrte mit zu ſeinem
Plane eines Vergnuͤgens (er verſtand darunter das
ſtets froͤhliche Herz); wobey er von den Stoikern vor-
nemlich nur darin abwich, daß er in dieſem Vergnuͤ-
gen den Bewegungsgrund ſetzte, welches die letztern,
und zwar mit Recht, verweigerten. Denn einestheils
fiel der tugendhafte Epicur, ſo wie noch jetzt viele mo-
raliſch wohlgeſinnte, obgleich uͤber ihre Principien nicht
tief genug nachdenkende Maͤnner, in den Fehler, die
tugendhafte Geſinnung in denen Perſonen ſchon voraus-
zuſetzen, fuͤr die er die Triebfeder zur Tugend zuerſt an-

geben
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0216" n="208"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> B. <hi rendition="#aq">II.</hi> Haupt&#x017F;t. Von der Dialectik</fw><lb/>
muß es befremden, daß gleichwol die Philo&#x017F;ophen, al-<lb/>
ter &#x017F;o wol, als neuer Zeiten, die Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit mit<lb/>
der Tugend in ganz geziemender Proportion &#x017F;chon in<lb/><hi rendition="#fr">die&#x017F;em Leben</hi> (in der Sinnenwelt) haben finden, oder<lb/>
&#x017F;ich ihrer bewußt zu &#x017F;eyn haben u&#x0364;berreden ko&#x0364;nnen. Denn<lb/>
Epikur &#x017F;owol, als die Stoiker, erhoben die Glu&#x0364;ck&#x017F;elig-<lb/>
keit, die aus dem Bewußt&#x017F;eyn der Tugend im Leben ent-<lb/>
&#x017F;pringe, u&#x0364;ber alles, und der er&#x017F;tere war in &#x017F;einen pra-<lb/>
cti&#x017F;chen Vor&#x017F;chriften nicht &#x017F;o niedrig ge&#x017F;innt, als man<lb/>
aus den Principien &#x017F;einer Theorie, die er zum Erkla&#x0364;ren,<lb/>
nicht zum Handeln brauchte, &#x017F;chließen mo&#x0364;chte, oder,<lb/>
wie &#x017F;ie viele, durch den Ausdruck Wollu&#x017F;t, fu&#x0364;r Zufrie-<lb/>
denheit, verleitet, ausdeuteten, &#x017F;ondern rechnete die<lb/>
uneigennu&#x0364;tzig&#x017F;te Ausu&#x0364;bung des Guten mit zu den Ge-<lb/>
nußarten der innig&#x017F;ten Freude, und die Gnu&#x0364;g&#x017F;amkeit und<lb/>
Ba&#x0364;ndigung der Neigungen, &#x017F;o wie &#x017F;ie immer der &#x017F;treng-<lb/>
&#x017F;te Moralphilo&#x017F;oph fodern mag, geho&#x0364;rte mit zu &#x017F;einem<lb/>
Plane eines Vergnu&#x0364;gens (er ver&#x017F;tand darunter das<lb/>
&#x017F;tets fro&#x0364;hliche Herz); wobey er von den Stoikern vor-<lb/>
nemlich nur darin abwich, daß er in die&#x017F;em Vergnu&#x0364;-<lb/>
gen den Bewegungsgrund &#x017F;etzte, welches die letztern,<lb/>
und zwar mit Recht, verweigerten. Denn einestheils<lb/>
fiel der tugendhafte Epicur, &#x017F;o wie noch jetzt viele mo-<lb/>
rali&#x017F;ch wohlge&#x017F;innte, obgleich u&#x0364;ber ihre Principien nicht<lb/>
tief genug nachdenkende Ma&#x0364;nner, in den Fehler, die<lb/>
tugendhafte <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;innung</hi> in denen Per&#x017F;onen &#x017F;chon voraus-<lb/>
zu&#x017F;etzen, fu&#x0364;r die er die Triebfeder zur Tugend zuer&#x017F;t an-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">geben</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[208/0216] I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik muß es befremden, daß gleichwol die Philoſophen, al- ter ſo wol, als neuer Zeiten, die Gluͤckſeligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion ſchon in dieſem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden, oder ſich ihrer bewußt zu ſeyn haben uͤberreden koͤnnen. Denn Epikur ſowol, als die Stoiker, erhoben die Gluͤckſelig- keit, die aus dem Bewußtſeyn der Tugend im Leben ent- ſpringe, uͤber alles, und der erſtere war in ſeinen pra- ctiſchen Vorſchriften nicht ſo niedrig geſinnt, als man aus den Principien ſeiner Theorie, die er zum Erklaͤren, nicht zum Handeln brauchte, ſchließen moͤchte, oder, wie ſie viele, durch den Ausdruck Wolluſt, fuͤr Zufrie- denheit, verleitet, ausdeuteten, ſondern rechnete die uneigennuͤtzigſte Ausuͤbung des Guten mit zu den Ge- nußarten der innigſten Freude, und die Gnuͤgſamkeit und Baͤndigung der Neigungen, ſo wie ſie immer der ſtreng- ſte Moralphiloſoph fodern mag, gehoͤrte mit zu ſeinem Plane eines Vergnuͤgens (er verſtand darunter das ſtets froͤhliche Herz); wobey er von den Stoikern vor- nemlich nur darin abwich, daß er in dieſem Vergnuͤ- gen den Bewegungsgrund ſetzte, welches die letztern, und zwar mit Recht, verweigerten. Denn einestheils fiel der tugendhafte Epicur, ſo wie noch jetzt viele mo- raliſch wohlgeſinnte, obgleich uͤber ihre Principien nicht tief genug nachdenkende Maͤnner, in den Fehler, die tugendhafte Geſinnung in denen Perſonen ſchon voraus- zuſetzen, fuͤr die er die Triebfeder zur Tugend zuerſt an- geben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/216
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/216>, abgerufen am 19.04.2024.