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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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II. Th. Methodenlehre
Verleumdern seine besten Freunde, die ihm jetzt ihre
Freundschaft aufsagen, nahe Verwandte, die ihn (der
ohne Vermögen ist,) zu enterben drohen, Mächtige,
die ihn in jedem Orte und Zustande verfolgen und krän-
ken können, ein Landesfürst, der ihn mit dem Verlust
der Freyheit, ja des Lebens selbst bedroht. Um
ihn aber, damit das Maaß des Leidens voll sey, auch
den Schmerz fühlen zu lassen, den nur das sitt-
lich gute Herz recht inniglich fühlen kann, mag man
seine mit äußerster Noth und Dürftigkeit bedrohete
Familie ihn um Nachgiebigkeit anflehend, ihn
selbst, obzwar rechtschaffen, doch eben nicht von festen
unempfindlichen Organen des Gefühls, für Mitleid
sowol als eigener Noth, in einem Augenblick, darin
er wünscht den Tag nie erlebt zu haben, der ihn einem
so unaussprechlichen Schmerz aussetzte, dennoch seinem
Vorsatze der Redlichkeit, ohne zu wanken oder nur zu
zweifeln, treu bleibend, vorstellen: so wird mein ju-
gendlicher Zuhörer stufenweise, von der bloßen Billi-
gung zur Bewunderung, von da zum Erstaunen,
endlich bis zur größten Verehrung, und einem lebhaften
Wunsche, selbst ein solcher Mann seyn zu können, (ob-
zwar freylich nicht in seinem Zustande,) erhoben wer-
den; und gleichwol ist hier die Tugend nur darum so
viel werth, weil sie so viel kostet, nicht weil sie etwas
einbringt. Die ganze Bewunderung und selbst Bestre-
bung zur Aehnlichkeit mit diesem Character beruht hier

gänz-

II. Th. Methodenlehre
Verleumdern ſeine beſten Freunde, die ihm jetzt ihre
Freundſchaft aufſagen, nahe Verwandte, die ihn (der
ohne Vermoͤgen iſt,) zu enterben drohen, Maͤchtige,
die ihn in jedem Orte und Zuſtande verfolgen und kraͤn-
ken koͤnnen, ein Landesfuͤrſt, der ihn mit dem Verluſt
der Freyheit, ja des Lebens ſelbſt bedroht. Um
ihn aber, damit das Maaß des Leidens voll ſey, auch
den Schmerz fuͤhlen zu laſſen, den nur das ſitt-
lich gute Herz recht inniglich fuͤhlen kann, mag man
ſeine mit aͤußerſter Noth und Duͤrftigkeit bedrohete
Familie ihn um Nachgiebigkeit anflehend, ihn
ſelbſt, obzwar rechtſchaffen, doch eben nicht von feſten
unempfindlichen Organen des Gefuͤhls, fuͤr Mitleid
ſowol als eigener Noth, in einem Augenblick, darin
er wuͤnſcht den Tag nie erlebt zu haben, der ihn einem
ſo unausſprechlichen Schmerz ausſetzte, dennoch ſeinem
Vorſatze der Redlichkeit, ohne zu wanken oder nur zu
zweifeln, treu bleibend, vorſtellen: ſo wird mein ju-
gendlicher Zuhoͤrer ſtufenweiſe, von der bloßen Billi-
gung zur Bewunderung, von da zum Erſtaunen,
endlich bis zur groͤßten Verehrung, und einem lebhaften
Wunſche, ſelbſt ein ſolcher Mann ſeyn zu koͤnnen, (ob-
zwar freylich nicht in ſeinem Zuſtande,) erhoben wer-
den; und gleichwol iſt hier die Tugend nur darum ſo
viel werth, weil ſie ſo viel koſtet, nicht weil ſie etwas
einbringt. Die ganze Bewunderung und ſelbſt Beſtre-
bung zur Aehnlichkeit mit dieſem Character beruht hier

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[278/0286] II. Th. Methodenlehre Verleumdern ſeine beſten Freunde, die ihm jetzt ihre Freundſchaft aufſagen, nahe Verwandte, die ihn (der ohne Vermoͤgen iſt,) zu enterben drohen, Maͤchtige, die ihn in jedem Orte und Zuſtande verfolgen und kraͤn- ken koͤnnen, ein Landesfuͤrſt, der ihn mit dem Verluſt der Freyheit, ja des Lebens ſelbſt bedroht. Um ihn aber, damit das Maaß des Leidens voll ſey, auch den Schmerz fuͤhlen zu laſſen, den nur das ſitt- lich gute Herz recht inniglich fuͤhlen kann, mag man ſeine mit aͤußerſter Noth und Duͤrftigkeit bedrohete Familie ihn um Nachgiebigkeit anflehend, ihn ſelbſt, obzwar rechtſchaffen, doch eben nicht von feſten unempfindlichen Organen des Gefuͤhls, fuͤr Mitleid ſowol als eigener Noth, in einem Augenblick, darin er wuͤnſcht den Tag nie erlebt zu haben, der ihn einem ſo unausſprechlichen Schmerz ausſetzte, dennoch ſeinem Vorſatze der Redlichkeit, ohne zu wanken oder nur zu zweifeln, treu bleibend, vorſtellen: ſo wird mein ju- gendlicher Zuhoͤrer ſtufenweiſe, von der bloßen Billi- gung zur Bewunderung, von da zum Erſtaunen, endlich bis zur groͤßten Verehrung, und einem lebhaften Wunſche, ſelbſt ein ſolcher Mann ſeyn zu koͤnnen, (ob- zwar freylich nicht in ſeinem Zuſtande,) erhoben wer- den; und gleichwol iſt hier die Tugend nur darum ſo viel werth, weil ſie ſo viel koſtet, nicht weil ſie etwas einbringt. Die ganze Bewunderung und ſelbſt Beſtre- bung zur Aehnlichkeit mit dieſem Character beruht hier gaͤnz-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/286>, abgerufen am 23.04.2024.