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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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II. Th. Methodenlehre
noch nicht das Interesse an den Handlungen und ihrer
Moralität selbst. Sie macht blos, daß man sich gerne
mit einer solchen Beurtheilung unterhält, und giebt der
Tugend, oder der Denkungsart nach moralischen Gese-
tzen, eine Form der Schönheit, die bewundert, darum
aber noch nicht gesucht wird (laudatur et alget); wie
alles, dessen Betrachtung subjectiv ein Bewußtseyn der
Harmonie unserer Vorstellungskräfte bewirkt, und wo-
bey wir unser ganzes Erkenntnißvermögen (Verstand
und Einbildungskraft) gestärkt fühlen, ein Wohlgefal-
len hervorbringt, das sich auch andern mittheilen läßt,
wobey gleichwol die Existenz des Objects uns gleichgültig
bleibt, indem es nur als die Veranlassung angesehen
wird, der über die Thierheit erhabenen Anlage der Ta-
lente in uns inne zu werden. Nun tritt aber die zwey-
te Uebung ihr Geschäfft an, nemlich in der lebendigen
Darstellung der moralischen Gesinnung an Beyspielen,
die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen, vorerst
nur als negativer Vollkommenheit desselben, so fern in
einer Handlung aus Pflicht gar keine Triebfedern der
Neigungen als Bestimmungsgründe auf ihn einfließen;
wodurch der Lehrling doch auf das Bewußtseyn seiner
Freyheit aufmerksam erhalten wird; und obgleich diese
Entsagung eine anfängliche Empfindung von Schmerz er-
regt, dennoch dadurch, daß sie jenen Lehrling dem Zwan-
ge selbst wahrer Bedürfnisse entzieht, ihm zugleich eine
Befreyung von der mannigfaltigen Unzufriedenheit,

darin

II. Th. Methodenlehre
noch nicht das Intereſſe an den Handlungen und ihrer
Moralitaͤt ſelbſt. Sie macht blos, daß man ſich gerne
mit einer ſolchen Beurtheilung unterhaͤlt, und giebt der
Tugend, oder der Denkungsart nach moraliſchen Geſe-
tzen, eine Form der Schoͤnheit, die bewundert, darum
aber noch nicht geſucht wird (laudatur et alget); wie
alles, deſſen Betrachtung ſubjectiv ein Bewußtſeyn der
Harmonie unſerer Vorſtellungskraͤfte bewirkt, und wo-
bey wir unſer ganzes Erkenntnißvermoͤgen (Verſtand
und Einbildungskraft) geſtaͤrkt fuͤhlen, ein Wohlgefal-
len hervorbringt, das ſich auch andern mittheilen laͤßt,
wobey gleichwol die Exiſtenz des Objects uns gleichguͤltig
bleibt, indem es nur als die Veranlaſſung angeſehen
wird, der uͤber die Thierheit erhabenen Anlage der Ta-
lente in uns inne zu werden. Nun tritt aber die zwey-
te Uebung ihr Geſchaͤfft an, nemlich in der lebendigen
Darſtellung der moraliſchen Geſinnung an Beyſpielen,
die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen, vorerſt
nur als negativer Vollkommenheit deſſelben, ſo fern in
einer Handlung aus Pflicht gar keine Triebfedern der
Neigungen als Beſtimmungsgruͤnde auf ihn einfließen;
wodurch der Lehrling doch auf das Bewußtſeyn ſeiner
Freyheit aufmerkſam erhalten wird; und obgleich dieſe
Entſagung eine anfaͤngliche Empfindung von Schmerz er-
regt, dennoch dadurch, daß ſie jenen Lehrling dem Zwan-
ge ſelbſt wahrer Beduͤrfniſſe entzieht, ihm zugleich eine
Befreyung von der mannigfaltigen Unzufriedenheit,

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[286/0294] II. Th. Methodenlehre noch nicht das Intereſſe an den Handlungen und ihrer Moralitaͤt ſelbſt. Sie macht blos, daß man ſich gerne mit einer ſolchen Beurtheilung unterhaͤlt, und giebt der Tugend, oder der Denkungsart nach moraliſchen Geſe- tzen, eine Form der Schoͤnheit, die bewundert, darum aber noch nicht geſucht wird (laudatur et alget); wie alles, deſſen Betrachtung ſubjectiv ein Bewußtſeyn der Harmonie unſerer Vorſtellungskraͤfte bewirkt, und wo- bey wir unſer ganzes Erkenntnißvermoͤgen (Verſtand und Einbildungskraft) geſtaͤrkt fuͤhlen, ein Wohlgefal- len hervorbringt, das ſich auch andern mittheilen laͤßt, wobey gleichwol die Exiſtenz des Objects uns gleichguͤltig bleibt, indem es nur als die Veranlaſſung angeſehen wird, der uͤber die Thierheit erhabenen Anlage der Ta- lente in uns inne zu werden. Nun tritt aber die zwey- te Uebung ihr Geſchaͤfft an, nemlich in der lebendigen Darſtellung der moraliſchen Geſinnung an Beyſpielen, die Reinigkeit des Willens bemerklich zu machen, vorerſt nur als negativer Vollkommenheit deſſelben, ſo fern in einer Handlung aus Pflicht gar keine Triebfedern der Neigungen als Beſtimmungsgruͤnde auf ihn einfließen; wodurch der Lehrling doch auf das Bewußtſeyn ſeiner Freyheit aufmerkſam erhalten wird; und obgleich dieſe Entſagung eine anfaͤngliche Empfindung von Schmerz er- regt, dennoch dadurch, daß ſie jenen Lehrling dem Zwan- ge ſelbſt wahrer Beduͤrfniſſe entzieht, ihm zugleich eine Befreyung von der mannigfaltigen Unzufriedenheit, darin

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/294>, abgerufen am 24.04.2024.