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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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Vorrede.

Wenn nun diese mit der Vernunft, die blos em-
pirische Grundsätze zuläßt, in Widerstreit geräth, wie
dieses in der Antinomie, da Mathematik die unend-
liche Theilbarkeit des Raumes unwidersprechlich be-
weiset, der Empirism aber sie nicht verstatten kann,
unvermeidlich ist: so ist die größte mögliche Evidenz
der Demonstration, mit den vorgeblichen Schlüssen
aus Erfahrungsprincipien, in offenbarem Wider-
spruch, und nun muß man, wie der Blinde des Che-
selden fragen: was betrügt mich, das Gesicht oder
Gefühl? (denn der Empirism gründet sich auf einer
gefühlten, der Rationalism aber auf einer eingesehe-
nen
Nothwendigkeit.) Und so offenbaret sich der all-
gemeine Empirism als den ächten Scepticism, den
man dem Hume fälschlich in so unbeschränkter Be-
deutung beylegte *), da er wenigstens einen sicheren

Pro-
*) Namen, welche einen Sectenanhang bezeichnen, ha-
ben zu aller Zeit viel Rechtsverdrehung bey sich geführt;
ungefehr so, als wenn jemand sagte: N. ist ein Idea-
list
. Denn, ob er gleich, durchaus, nicht allein einräumt,
sondern darauf dringt, daß unseren Vorstellungen äuße-
rer
Vorrede.

Wenn nun dieſe mit der Vernunft, die blos em-
piriſche Grundſaͤtze zulaͤßt, in Widerſtreit geraͤth, wie
dieſes in der Antinomie, da Mathematik die unend-
liche Theilbarkeit des Raumes unwiderſprechlich be-
weiſet, der Empirism aber ſie nicht verſtatten kann,
unvermeidlich iſt: ſo iſt die groͤßte moͤgliche Evidenz
der Demonſtration, mit den vorgeblichen Schluͤſſen
aus Erfahrungsprincipien, in offenbarem Wider-
ſpruch, und nun muß man, wie der Blinde des Che-
ſelden fragen: was betruͤgt mich, das Geſicht oder
Gefuͤhl? (denn der Empirism gruͤndet ſich auf einer
gefuͤhlten, der Rationalism aber auf einer eingeſehe-
nen
Nothwendigkeit.) Und ſo offenbaret ſich der all-
gemeine Empirism als den aͤchten Scepticism, den
man dem Hume faͤlſchlich in ſo unbeſchraͤnkter Be-
deutung beylegte *), da er wenigſtens einen ſicheren

Pro-
*) Namen, welche einen Sectenanhang bezeichnen, ha-
ben zu aller Zeit viel Rechtsverdrehung bey ſich gefuͤhrt;
ungefehr ſo, als wenn jemand ſagte: N. iſt ein Idea-
liſt
. Denn, ob er gleich, durchaus, nicht allein einraͤumt,
ſondern darauf dringt, daß unſeren Vorſtellungen aͤuße-
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[27/0035] Vorrede. Wenn nun dieſe mit der Vernunft, die blos em- piriſche Grundſaͤtze zulaͤßt, in Widerſtreit geraͤth, wie dieſes in der Antinomie, da Mathematik die unend- liche Theilbarkeit des Raumes unwiderſprechlich be- weiſet, der Empirism aber ſie nicht verſtatten kann, unvermeidlich iſt: ſo iſt die groͤßte moͤgliche Evidenz der Demonſtration, mit den vorgeblichen Schluͤſſen aus Erfahrungsprincipien, in offenbarem Wider- ſpruch, und nun muß man, wie der Blinde des Che- ſelden fragen: was betruͤgt mich, das Geſicht oder Gefuͤhl? (denn der Empirism gruͤndet ſich auf einer gefuͤhlten, der Rationalism aber auf einer eingeſehe- nen Nothwendigkeit.) Und ſo offenbaret ſich der all- gemeine Empirism als den aͤchten Scepticism, den man dem Hume faͤlſchlich in ſo unbeſchraͤnkter Be- deutung beylegte *), da er wenigſtens einen ſicheren Pro- *) Namen, welche einen Sectenanhang bezeichnen, ha- ben zu aller Zeit viel Rechtsverdrehung bey ſich gefuͤhrt; ungefehr ſo, als wenn jemand ſagte: N. iſt ein Idea- liſt. Denn, ob er gleich, durchaus, nicht allein einraͤumt, ſondern darauf dringt, daß unſeren Vorſtellungen aͤuße- rer

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/35>, abgerufen am 28.03.2024.