Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. I. B. I. Hauptst. Von den Grundsätzen
bloße Vergnügen aussetzen, das sie verspricht, um den Willen
zu bestimmen: so können wir ihn hernach nicht tadeln, daß er
dieses mit denen der gröbsten Sinne für ganz gleichartig hält;
denn man hat gar nicht Grund ihm aufzubürden, daß er die
Vorstellungen, wodurch dieses Gefühl in uns erregt würde,
blos den körperlichen Sinnen beygemessen hätte. Er hat von
vielen derselben den Quell, so viel man errathen kann, eben
sowohl in dem Gebrauch des höheren Erkenntnißvermögens ge-
sucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht
hindern, nach genanntem Princip das Vergnügen selbst, das
uns jene allenfalls intellectuelle Vorstellungen gewähren, und
wodurch sie allein Bestimmungsgründe des Willens seyn kön-
nen, gänzlich für gleichartig zu halten. Consequent zu seyn,
ist die größte Obliegenheit eines Philosophen, und wird doch am
seltensten angetroffen. Die alten griechischen Schulen geben uns
davon mehr Beyspiele, als wir in unserem syncretistischen
Zeitalter antreffen, wo ein gewisses Coalitionssystem wider-
sprechender Grundsätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit er-
künstelt wird, weil es sich einem Publicum besser empfiehlt,
das zufrieden ist, von allem Etwas, und im Ganzen nichts
zu wissen, und dabey in allen Sätteln gerecht zu seyn. Das
Princip der eigenen Glückseligkeit, so viel Verstand und Vernunft
bey ihm auch gebraucht werden mag, würde doch für den Willen
keine andere Bestimmungsgründe, als die dem unteren Be-
gehrungsvermögen angemessen sind, in sich fassen, und es giebt
also entweder gar kein Begehrungsvermögen, oder reine Ver-
nunft muß für sich allein practisch seyn, d. i. ohne Voraus-
setzung irgend eines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des
Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Be-
gehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung
der Principien ist, durch die bloße Form der practischen Regel

den

I. Th. I. B. I. Hauptſt. Von den Grundſaͤtzen
bloße Vergnuͤgen ausſetzen, das ſie verſpricht, um den Willen
zu beſtimmen: ſo koͤnnen wir ihn hernach nicht tadeln, daß er
dieſes mit denen der groͤbſten Sinne fuͤr ganz gleichartig haͤlt;
denn man hat gar nicht Grund ihm aufzubuͤrden, daß er die
Vorſtellungen, wodurch dieſes Gefuͤhl in uns erregt wuͤrde,
blos den koͤrperlichen Sinnen beygemeſſen haͤtte. Er hat von
vielen derſelben den Quell, ſo viel man errathen kann, eben
ſowohl in dem Gebrauch des hoͤheren Erkenntnißvermoͤgens ge-
ſucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht
hindern, nach genanntem Princip das Vergnuͤgen ſelbſt, das
uns jene allenfalls intellectuelle Vorſtellungen gewaͤhren, und
wodurch ſie allein Beſtimmungsgruͤnde des Willens ſeyn koͤn-
nen, gaͤnzlich fuͤr gleichartig zu halten. Conſequent zu ſeyn,
iſt die groͤßte Obliegenheit eines Philoſophen, und wird doch am
ſeltenſten angetroffen. Die alten griechiſchen Schulen geben uns
davon mehr Beyſpiele, als wir in unſerem ſyncretiſtiſchen
Zeitalter antreffen, wo ein gewiſſes Coalitionsſyſtem wider-
ſprechender Grundſaͤtze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit er-
kuͤnſtelt wird, weil es ſich einem Publicum beſſer empfiehlt,
das zufrieden iſt, von allem Etwas, und im Ganzen nichts
zu wiſſen, und dabey in allen Saͤtteln gerecht zu ſeyn. Das
Princip der eigenen Gluͤckſeligkeit, ſo viel Verſtand und Vernunft
bey ihm auch gebraucht werden mag, wuͤrde doch fuͤr den Willen
keine andere Beſtimmungsgruͤnde, als die dem unteren Be-
gehrungsvermoͤgen angemeſſen ſind, in ſich faſſen, und es giebt
alſo entweder gar kein Begehrungsvermoͤgen, oder reine Ver-
nunft muß fuͤr ſich allein practiſch ſeyn, d. i. ohne Voraus-
ſetzung irgend eines Gefuͤhls, mithin ohne Vorſtellungen des
Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Be-
gehrungsvermoͤgens, die jederzeit eine empiriſche Bedingung
der Principien iſt, durch die bloße Form der practiſchen Regel

den
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0052" n="44"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">I.</hi> B. <hi rendition="#aq">I.</hi> Haupt&#x017F;t. Von den Grund&#x017F;a&#x0364;tzen</fw><lb/>
bloße Vergnu&#x0364;gen aus&#x017F;etzen, das &#x017F;ie ver&#x017F;pricht, um den Willen<lb/>
zu be&#x017F;timmen: &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir ihn hernach nicht tadeln, daß er<lb/>
die&#x017F;es mit denen der gro&#x0364;b&#x017F;ten Sinne fu&#x0364;r ganz gleichartig ha&#x0364;lt;<lb/>
denn man hat gar nicht Grund ihm aufzubu&#x0364;rden, daß er die<lb/>
Vor&#x017F;tellungen, wodurch die&#x017F;es Gefu&#x0364;hl in uns erregt wu&#x0364;rde,<lb/>
blos den ko&#x0364;rperlichen Sinnen beygeme&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tte. Er hat von<lb/>
vielen der&#x017F;elben den Quell, &#x017F;o viel man errathen kann, eben<lb/>
&#x017F;owohl in dem Gebrauch des ho&#x0364;heren Erkenntnißvermo&#x0364;gens ge-<lb/>
&#x017F;ucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht<lb/>
hindern, nach genanntem Princip das Vergnu&#x0364;gen &#x017F;elb&#x017F;t, das<lb/>
uns jene allenfalls intellectuelle Vor&#x017F;tellungen gewa&#x0364;hren, und<lb/>
wodurch &#x017F;ie allein Be&#x017F;timmungsgru&#x0364;nde des Willens &#x017F;eyn ko&#x0364;n-<lb/>
nen, ga&#x0364;nzlich fu&#x0364;r gleichartig zu halten. <hi rendition="#fr">Con&#x017F;equent</hi> zu &#x017F;eyn,<lb/>
i&#x017F;t die gro&#x0364;ßte Obliegenheit eines Philo&#x017F;ophen, und wird doch am<lb/>
&#x017F;elten&#x017F;ten angetroffen. Die alten griechi&#x017F;chen Schulen geben uns<lb/>
davon mehr Bey&#x017F;piele, als wir in un&#x017F;erem <hi rendition="#fr">&#x017F;yncreti&#x017F;ti&#x017F;chen</hi><lb/>
Zeitalter antreffen, wo ein gewi&#x017F;&#x017F;es <hi rendition="#fr">Coalitions&#x017F;y&#x017F;tem</hi> wider-<lb/>
&#x017F;prechender Grund&#x017F;a&#x0364;tze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit er-<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;telt wird, weil es &#x017F;ich einem Publicum be&#x017F;&#x017F;er empfiehlt,<lb/>
das zufrieden i&#x017F;t, von allem Etwas, und im Ganzen nichts<lb/>
zu wi&#x017F;&#x017F;en, und dabey in allen Sa&#x0364;tteln gerecht zu &#x017F;eyn. Das<lb/>
Princip der eigenen Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit, &#x017F;o viel Ver&#x017F;tand und Vernunft<lb/>
bey ihm auch gebraucht werden mag, wu&#x0364;rde doch fu&#x0364;r den Willen<lb/>
keine andere Be&#x017F;timmungsgru&#x0364;nde, als die dem unteren Be-<lb/>
gehrungsvermo&#x0364;gen angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind, in &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;en, und es giebt<lb/>
al&#x017F;o entweder gar kein Begehrungsvermo&#x0364;gen, oder reine Ver-<lb/>
nunft muß fu&#x0364;r &#x017F;ich allein practi&#x017F;ch &#x017F;eyn, d. i. ohne Voraus-<lb/>
&#x017F;etzung irgend eines Gefu&#x0364;hls, mithin ohne Vor&#x017F;tellungen des<lb/>
Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Be-<lb/>
gehrungsvermo&#x0364;gens, die jederzeit eine empiri&#x017F;che Bedingung<lb/>
der Principien i&#x017F;t, durch die bloße Form der practi&#x017F;chen Regel<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0052] I. Th. I. B. I. Hauptſt. Von den Grundſaͤtzen bloße Vergnuͤgen ausſetzen, das ſie verſpricht, um den Willen zu beſtimmen: ſo koͤnnen wir ihn hernach nicht tadeln, daß er dieſes mit denen der groͤbſten Sinne fuͤr ganz gleichartig haͤlt; denn man hat gar nicht Grund ihm aufzubuͤrden, daß er die Vorſtellungen, wodurch dieſes Gefuͤhl in uns erregt wuͤrde, blos den koͤrperlichen Sinnen beygemeſſen haͤtte. Er hat von vielen derſelben den Quell, ſo viel man errathen kann, eben ſowohl in dem Gebrauch des hoͤheren Erkenntnißvermoͤgens ge- ſucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auch nicht hindern, nach genanntem Princip das Vergnuͤgen ſelbſt, das uns jene allenfalls intellectuelle Vorſtellungen gewaͤhren, und wodurch ſie allein Beſtimmungsgruͤnde des Willens ſeyn koͤn- nen, gaͤnzlich fuͤr gleichartig zu halten. Conſequent zu ſeyn, iſt die groͤßte Obliegenheit eines Philoſophen, und wird doch am ſeltenſten angetroffen. Die alten griechiſchen Schulen geben uns davon mehr Beyſpiele, als wir in unſerem ſyncretiſtiſchen Zeitalter antreffen, wo ein gewiſſes Coalitionsſyſtem wider- ſprechender Grundſaͤtze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit er- kuͤnſtelt wird, weil es ſich einem Publicum beſſer empfiehlt, das zufrieden iſt, von allem Etwas, und im Ganzen nichts zu wiſſen, und dabey in allen Saͤtteln gerecht zu ſeyn. Das Princip der eigenen Gluͤckſeligkeit, ſo viel Verſtand und Vernunft bey ihm auch gebraucht werden mag, wuͤrde doch fuͤr den Willen keine andere Beſtimmungsgruͤnde, als die dem unteren Be- gehrungsvermoͤgen angemeſſen ſind, in ſich faſſen, und es giebt alſo entweder gar kein Begehrungsvermoͤgen, oder reine Ver- nunft muß fuͤr ſich allein practiſch ſeyn, d. i. ohne Voraus- ſetzung irgend eines Gefuͤhls, mithin ohne Vorſtellungen des Angenehmen oder Unangenehmen, als der Materie des Be- gehrungsvermoͤgens, die jederzeit eine empiriſche Bedingung der Principien iſt, durch die bloße Form der practiſchen Regel den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/52
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/52>, abgerufen am 23.04.2024.