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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. I. B. I. Hauptst. Von den Grundsätzen
dem Begriffe einer Strafe, als einer solchen, doch gar nicht
das Theilhaftigwerden der Glückseligkeit verbinden. Denn
obgleich der, so da straft, wol zugleich die gütige Absicht ha-
ben kann, diese Strafe auch auf diesen Zweck zu richten, so
muß sie doch zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Uebel für sich
selbst gerechtfertigt seyn, so daß der Gestrafte, wenn es dabey
bliebe, und er auch auf keine sich hinter dieser Härte verber-
gende Gunst hinaussähe, selbst gestehen muß, es sey ihm Recht
geschehen, und sein Loos sey seinem Verhalten vollkommen an-
gemessen. In jeder Strafe, als solcher, muß zuerst Gerech-
tigkeit seyn, und diese macht das Wesentliche dieses Begriffs
aus. Mit ihr kann zwar auch Gütigkeit verbunden werden,
aber auf diese hat der Strafwürdige, nach seiner Aufführung,
nicht die mindeste Ursache sich Rechnung zu machen. Also ist
Strafe ein physisches Uebel, welches, wenn es auch nicht als
natürliche Folge mit dem moralisch-Bösen verbunden wäre,
doch als Folge nach Principien einer sittlichen Gesetzgebung
verbunden werden müßte. Wenn nun alles Verbrechen, auch
ohne auf die physischen Folgen in Ansehung des Thäters zu sehen,
für sich strafbar ist, d. i. Glückseligkeit (wenigstens zum Theil)
verwirkt, so wäre es offenbar ungereimt zu sagen: das Ver-
brechen habe darin eben bestanden, daß er sich eine Strafe zu-
gezogen hat, indem er seiner eigenen Glückseligkeit Abbruch
that (welches nach dem Princip der Selbstliebe der eigentliche
Begriff alles Verbrechens seyn müßte). Die Strafe würde
auf diese Art der Grund seyn, etwas ein Verbrechen zu nen-
nen, und die Gerechtigkeit müßte vielmehr darin bestehen,
alle Bestrafung zu unterlassen und selbst die natürliche zu ver-
hindern; denn alsdenn wäre in der Handlung nichts Böses
mehr, weil die Uebel, die sonst darauf folgeten, und um de-
ren willen die Handlung allein böse hieß, nunmehro abgehalten

wären.

I. Th. I. B. I. Hauptſt. Von den Grundſaͤtzen
dem Begriffe einer Strafe, als einer ſolchen, doch gar nicht
das Theilhaftigwerden der Gluͤckſeligkeit verbinden. Denn
obgleich der, ſo da ſtraft, wol zugleich die guͤtige Abſicht ha-
ben kann, dieſe Strafe auch auf dieſen Zweck zu richten, ſo
muß ſie doch zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Uebel fuͤr ſich
ſelbſt gerechtfertigt ſeyn, ſo daß der Geſtrafte, wenn es dabey
bliebe, und er auch auf keine ſich hinter dieſer Haͤrte verber-
gende Gunſt hinausſaͤhe, ſelbſt geſtehen muß, es ſey ihm Recht
geſchehen, und ſein Loos ſey ſeinem Verhalten vollkommen an-
gemeſſen. In jeder Strafe, als ſolcher, muß zuerſt Gerech-
tigkeit ſeyn, und dieſe macht das Weſentliche dieſes Begriffs
aus. Mit ihr kann zwar auch Guͤtigkeit verbunden werden,
aber auf dieſe hat der Strafwuͤrdige, nach ſeiner Auffuͤhrung,
nicht die mindeſte Urſache ſich Rechnung zu machen. Alſo iſt
Strafe ein phyſiſches Uebel, welches, wenn es auch nicht als
natuͤrliche Folge mit dem moraliſch-Boͤſen verbunden waͤre,
doch als Folge nach Principien einer ſittlichen Geſetzgebung
verbunden werden muͤßte. Wenn nun alles Verbrechen, auch
ohne auf die phyſiſchen Folgen in Anſehung des Thaͤters zu ſehen,
fuͤr ſich ſtrafbar iſt, d. i. Gluͤckſeligkeit (wenigſtens zum Theil)
verwirkt, ſo waͤre es offenbar ungereimt zu ſagen: das Ver-
brechen habe darin eben beſtanden, daß er ſich eine Strafe zu-
gezogen hat, indem er ſeiner eigenen Gluͤckſeligkeit Abbruch
that (welches nach dem Princip der Selbſtliebe der eigentliche
Begriff alles Verbrechens ſeyn muͤßte). Die Strafe wuͤrde
auf dieſe Art der Grund ſeyn, etwas ein Verbrechen zu nen-
nen, und die Gerechtigkeit muͤßte vielmehr darin beſtehen,
alle Beſtrafung zu unterlaſſen und ſelbſt die natuͤrliche zu ver-
hindern; denn alsdenn waͤre in der Handlung nichts Boͤſes
mehr, weil die Uebel, die ſonſt darauf folgeten, und um de-
ren willen die Handlung allein boͤſe hieß, nunmehro abgehalten

waͤren.
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[66/0074] I. Th. I. B. I. Hauptſt. Von den Grundſaͤtzen dem Begriffe einer Strafe, als einer ſolchen, doch gar nicht das Theilhaftigwerden der Gluͤckſeligkeit verbinden. Denn obgleich der, ſo da ſtraft, wol zugleich die guͤtige Abſicht ha- ben kann, dieſe Strafe auch auf dieſen Zweck zu richten, ſo muß ſie doch zuvor als Strafe, d. i. als bloßes Uebel fuͤr ſich ſelbſt gerechtfertigt ſeyn, ſo daß der Geſtrafte, wenn es dabey bliebe, und er auch auf keine ſich hinter dieſer Haͤrte verber- gende Gunſt hinausſaͤhe, ſelbſt geſtehen muß, es ſey ihm Recht geſchehen, und ſein Loos ſey ſeinem Verhalten vollkommen an- gemeſſen. In jeder Strafe, als ſolcher, muß zuerſt Gerech- tigkeit ſeyn, und dieſe macht das Weſentliche dieſes Begriffs aus. Mit ihr kann zwar auch Guͤtigkeit verbunden werden, aber auf dieſe hat der Strafwuͤrdige, nach ſeiner Auffuͤhrung, nicht die mindeſte Urſache ſich Rechnung zu machen. Alſo iſt Strafe ein phyſiſches Uebel, welches, wenn es auch nicht als natuͤrliche Folge mit dem moraliſch-Boͤſen verbunden waͤre, doch als Folge nach Principien einer ſittlichen Geſetzgebung verbunden werden muͤßte. Wenn nun alles Verbrechen, auch ohne auf die phyſiſchen Folgen in Anſehung des Thaͤters zu ſehen, fuͤr ſich ſtrafbar iſt, d. i. Gluͤckſeligkeit (wenigſtens zum Theil) verwirkt, ſo waͤre es offenbar ungereimt zu ſagen: das Ver- brechen habe darin eben beſtanden, daß er ſich eine Strafe zu- gezogen hat, indem er ſeiner eigenen Gluͤckſeligkeit Abbruch that (welches nach dem Princip der Selbſtliebe der eigentliche Begriff alles Verbrechens ſeyn muͤßte). Die Strafe wuͤrde auf dieſe Art der Grund ſeyn, etwas ein Verbrechen zu nen- nen, und die Gerechtigkeit muͤßte vielmehr darin beſtehen, alle Beſtrafung zu unterlaſſen und ſelbſt die natuͤrliche zu ver- hindern; denn alsdenn waͤre in der Handlung nichts Boͤſes mehr, weil die Uebel, die ſonſt darauf folgeten, und um de- ren willen die Handlung allein boͤſe hieß, nunmehro abgehalten waͤren.

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/74>, abgerufen am 16.04.2024.