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Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892.

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verschiedenstem Sinne beantwortet worden. In jeder grösseren Ver-
suchsreihe finden sich Zahlen, welche nach der einen oder andern
Richtung hin sehr bedeutend von den übrigen abweichen und damit
ihren Ursprung aus irgend welchen ganz besonderen augenblicklichen
Zuständen oder gar direct aus Fehlervorgängen verrathen. Manche
Beobachter haben daher vor der Berechnung derartige "unwahrschein-
liche" Zahlen als unbrauchbar fortgelassen, während Andere vielmehr
den Grundsatz festhielten, dass alle Werthe, wie sie sich nun einmal
durch das Experiment ergeben, vollkommen gleichberechtigt seien und
daher mit in Rechnung gezogen werden müssten. Beide Verfahren
haben ihre sehr bedenklichen Seiten. Im letzteren Falle kann das
arithmetische Mittel durch die Verwendung extremer und möglicher-
weise aus technischen Fehlern entspringender Zahlen bedeutend be-
einflusst werden, während bei ersterem Vorgehen der Willkür Thür
und Thor geöffnet ist und nebenbei die Berechnung der mittleren
Variationen sehr problematisch wird.

Dazu kommt noch ein Einwand, der sich hier gegen die arith-
metische Mittelziehung überhaupt erheben lässt. Bei allen Reactions-
versuchen nämlich sind im Allgemeinen diejenigen Ursachenelemente,
welche eine Vergrösserung der wahren mittleren Reactionszeit herbei-
zuführen vermögen, also namentlich die Zerstreutheit und Er-
müdung, in viel ausgiebigerer Weise wirksam, als die verkürzenden,
die maximale Anspannung der Aufmerksamkeit und die Anticipation
des Reizes. Erstere können, theoretisch genommen, die Reactions-
zeit bis auf infinity verlängern, letztere nur bis auf 0 verkürzen, da
negative Zeiten wenigstens vom Chronoskope nicht gemessen werden.
Unter diesen Umständen ist es also sehr wahrscheinlich, dass die
zu hohen Werthe, wenn nicht an Zahl, so doch an Grösse der
Abweichung vom wahren Mittel stets die zu niedrigen übertreffen werden.
Die Folge davon aber muss nothwendig sein, dass das arithmetische
Mittel zu gross ausfällt.

Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit giebt uns die von Tiger-
stedt
und Bergquist*) empfohlene Methode, welche alle Versuchszahlen
nach Art der Gauss'schen Fehlercurve zusammenfasst. Eine möglichst
grosse Reihe von Beobachtungen wird hier nach der Grösse der Einzel-
werthe in kleinere Gruppen getheilt, welche jeweils diejenigen Zahlen
enthalten, die zwischen bestimmten, ganz gleich bemessenen Grenzen
liegen. Benutzt man nun die Länge der Reactionszeiten als Abscissen

*) Zeitschrift für Biologie XIX, 1, 1883.

verschiedenstem Sinne beantwortet worden. In jeder grösseren Ver-
suchsreihe finden sich Zahlen, welche nach der einen oder andern
Richtung hin sehr bedeutend von den übrigen abweichen und damit
ihren Ursprung aus irgend welchen ganz besonderen augenblicklichen
Zuständen oder gar direct aus Fehlervorgängen verrathen. Manche
Beobachter haben daher vor der Berechnung derartige „unwahrschein-
liche“ Zahlen als unbrauchbar fortgelassen, während Andere vielmehr
den Grundsatz festhielten, dass alle Werthe, wie sie sich nun einmal
durch das Experiment ergeben, vollkommen gleichberechtigt seien und
daher mit in Rechnung gezogen werden müssten. Beide Verfahren
haben ihre sehr bedenklichen Seiten. Im letzteren Falle kann das
arithmetische Mittel durch die Verwendung extremer und möglicher-
weise aus technischen Fehlern entspringender Zahlen bedeutend be-
einflusst werden, während bei ersterem Vorgehen der Willkür Thür
und Thor geöffnet ist und nebenbei die Berechnung der mittleren
Variationen sehr problematisch wird.

Dazu kommt noch ein Einwand, der sich hier gegen die arith-
metische Mittelziehung überhaupt erheben lässt. Bei allen Reactions-
versuchen nämlich sind im Allgemeinen diejenigen Ursachenelemente,
welche eine Vergrösserung der wahren mittleren Reactionszeit herbei-
zuführen vermögen, also namentlich die Zerstreutheit und Er-
müdung, in viel ausgiebigerer Weise wirksam, als die verkürzenden,
die maximale Anspannung der Aufmerksamkeit und die Anticipation
des Reizes. Erstere können, theoretisch genommen, die Reactions-
zeit bis auf ∞ verlängern, letztere nur bis auf 0 verkürzen, da
negative Zeiten wenigstens vom Chronoskope nicht gemessen werden.
Unter diesen Umständen ist es also sehr wahrscheinlich, dass die
zu hohen Werthe, wenn nicht an Zahl, so doch an Grösse der
Abweichung vom wahren Mittel stets die zu niedrigen übertreffen werden.
Die Folge davon aber muss nothwendig sein, dass das arithmetische
Mittel zu gross ausfällt.

Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit giebt uns die von Tiger-
stedt
und Bergquist*) empfohlene Methode, welche alle Versuchszahlen
nach Art der Gauss’schen Fehlercurve zusammenfasst. Eine möglichst
grosse Reihe von Beobachtungen wird hier nach der Grösse der Einzel-
werthe in kleinere Gruppen getheilt, welche jeweils diejenigen Zahlen
enthalten, die zwischen bestimmten, ganz gleich bemessenen Grenzen
liegen. Benutzt man nun die Länge der Reactionszeiten als Abscissen

*) Zeitschrift für Biologie XIX, 1, 1883.
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[23/0039] verschiedenstem Sinne beantwortet worden. In jeder grösseren Ver- suchsreihe finden sich Zahlen, welche nach der einen oder andern Richtung hin sehr bedeutend von den übrigen abweichen und damit ihren Ursprung aus irgend welchen ganz besonderen augenblicklichen Zuständen oder gar direct aus Fehlervorgängen verrathen. Manche Beobachter haben daher vor der Berechnung derartige „unwahrschein- liche“ Zahlen als unbrauchbar fortgelassen, während Andere vielmehr den Grundsatz festhielten, dass alle Werthe, wie sie sich nun einmal durch das Experiment ergeben, vollkommen gleichberechtigt seien und daher mit in Rechnung gezogen werden müssten. Beide Verfahren haben ihre sehr bedenklichen Seiten. Im letzteren Falle kann das arithmetische Mittel durch die Verwendung extremer und möglicher- weise aus technischen Fehlern entspringender Zahlen bedeutend be- einflusst werden, während bei ersterem Vorgehen der Willkür Thür und Thor geöffnet ist und nebenbei die Berechnung der mittleren Variationen sehr problematisch wird. Dazu kommt noch ein Einwand, der sich hier gegen die arith- metische Mittelziehung überhaupt erheben lässt. Bei allen Reactions- versuchen nämlich sind im Allgemeinen diejenigen Ursachenelemente, welche eine Vergrösserung der wahren mittleren Reactionszeit herbei- zuführen vermögen, also namentlich die Zerstreutheit und Er- müdung, in viel ausgiebigerer Weise wirksam, als die verkürzenden, die maximale Anspannung der Aufmerksamkeit und die Anticipation des Reizes. Erstere können, theoretisch genommen, die Reactions- zeit bis auf ∞ verlängern, letztere nur bis auf 0 verkürzen, da negative Zeiten wenigstens vom Chronoskope nicht gemessen werden. Unter diesen Umständen ist es also sehr wahrscheinlich, dass die zu hohen Werthe, wenn nicht an Zahl, so doch an Grösse der Abweichung vom wahren Mittel stets die zu niedrigen übertreffen werden. Die Folge davon aber muss nothwendig sein, dass das arithmetische Mittel zu gross ausfällt. Einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit giebt uns die von Tiger- stedt und Bergquist *) empfohlene Methode, welche alle Versuchszahlen nach Art der Gauss’schen Fehlercurve zusammenfasst. Eine möglichst grosse Reihe von Beobachtungen wird hier nach der Grösse der Einzel- werthe in kleinere Gruppen getheilt, welche jeweils diejenigen Zahlen enthalten, die zwischen bestimmten, ganz gleich bemessenen Grenzen liegen. Benutzt man nun die Länge der Reactionszeiten als Abscissen *) Zeitschrift für Biologie XIX, 1, 1883.

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Zitationshilfe: Kraepelin, Emil: Ueber die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel. Jena, 1892, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kraepelin_arzneimittel_1892/39>, abgerufen am 16.04.2024.