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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.
sammten Verhandlungen und einen Abdruck der, den Verhandlungen
zu Grunde liegenden schriftlichen Vorlagen, Anträge und Berichte
unter der Bezeichnung "Anlagen". Jedes Mitglied ist außerdem
befugt, bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abstimmungen
seine von dem Mehrheitsbeschlusse abweichende Abstimmung kurz
motivirt schriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme
in die stenographischen Berichte, ohne vorgängige Verlesung in
dem Reichstage, zu verlangen 1). Die stenographischen Berichte
werden gedruckt und erscheinen nach Legislatur-Perioden und Ses-
sionen und in chronologischer Reihenfolge der Sitzungen geordnet
im Buchhandel 2).

§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige
Ausübung der ihnen obliegenden Funktionen zu sichern, ist der
gemeinsame Zweck einer Reihe von Rechtsvorschriften. In der
Literatur faßt man dieselben gewöhnlich unter dem Gesichtspunkte
auf, daß es sich hierbei um persönliche Rechte der Reichs-
tagsmitglieder
handle 3). Dies ist indeß unrichtig. Alle
diese Vorschriften begründen keine subjectiven Berechtigungen; sie
sind vielmehr ihrem Inhalte nach Rechtssätze des Strafrechts und
des Prozesses, welche auf politischen und staatsrechtlichen
Motiven
beruhen. Es sind objective Spezial-Rechtssätze, nicht
durch Privileg begründete subjective Rechte, welche bestimmten
Individuen zustehen. Die Mitgliedschaft im Reichstage ist zwar
die Voraussetzung für die Anwendung dieser Rechtsvorschriften,
aber die Anwendung derselben hängt nicht von dem Willen des
Mitgliedes ab 4). Es ist dies für die allgemeine theoretische Auf-

1) Gesch.-Ordn. §. 56. Beispiele: Stenogr. Berichte 1874 I. Session.
S. 110 und 111.
2) Von dem verfassunggebenden Reichstage von 1867 an im Verlage der
Buchdruckerei der "Norddeutschen Allgem. Zeitung" in Berlin. Eine offizielle
Autorität kömmt den Stenogr. Berichten nicht zu. Thudichum S. 196.
3) Vrgl. z. B. v. Pözl S. 129. v. Rönne S. 174. Westerkamp
S. 109. Vgl. ferner Zöpfl II. §. 386 fg.
4) Man könnte mit demselben Grunde aus jeder Vorschrift der Prozeß-
Ordnungen und des Strafrechts subjective Rechte für alle diejenigen herleiten,
welche einmal in die Lage kommen, daß diese Vorschrift auf sie Anwendung
findet.

§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.
ſammten Verhandlungen und einen Abdruck der, den Verhandlungen
zu Grunde liegenden ſchriftlichen Vorlagen, Anträge und Berichte
unter der Bezeichnung „Anlagen“. Jedes Mitglied iſt außerdem
befugt, bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abſtimmungen
ſeine von dem Mehrheitsbeſchluſſe abweichende Abſtimmung kurz
motivirt ſchriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme
in die ſtenographiſchen Berichte, ohne vorgängige Verleſung in
dem Reichstage, zu verlangen 1). Die ſtenographiſchen Berichte
werden gedruckt und erſcheinen nach Legislatur-Perioden und Seſ-
ſionen und in chronologiſcher Reihenfolge der Sitzungen geordnet
im Buchhandel 2).

§. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder.

Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige
Ausübung der ihnen obliegenden Funktionen zu ſichern, iſt der
gemeinſame Zweck einer Reihe von Rechtsvorſchriften. In der
Literatur faßt man dieſelben gewöhnlich unter dem Geſichtspunkte
auf, daß es ſich hierbei um perſönliche Rechte der Reichs-
tagsmitglieder
handle 3). Dies iſt indeß unrichtig. Alle
dieſe Vorſchriften begründen keine ſubjectiven Berechtigungen; ſie
ſind vielmehr ihrem Inhalte nach Rechtsſätze des Strafrechts und
des Prozeſſes, welche auf politiſchen und ſtaatsrechtlichen
Motiven
beruhen. Es ſind objective Spezial-Rechtsſätze, nicht
durch Privileg begründete ſubjective Rechte, welche beſtimmten
Individuen zuſtehen. Die Mitgliedſchaft im Reichstage iſt zwar
die Vorausſetzung für die Anwendung dieſer Rechtsvorſchriften,
aber die Anwendung derſelben hängt nicht von dem Willen des
Mitgliedes ab 4). Es iſt dies für die allgemeine theoretiſche Auf-

1) Geſch.-Ordn. §. 56. Beiſpiele: Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſion.
S. 110 und 111.
2) Von dem verfaſſunggebenden Reichstage von 1867 an im Verlage der
Buchdruckerei der „Norddeutſchen Allgem. Zeitung“ in Berlin. Eine offizielle
Autorität kömmt den Stenogr. Berichten nicht zu. Thudichum S. 196.
3) Vrgl. z. B. v. Pözl S. 129. v. Rönne S. 174. Weſterkamp
S. 109. Vgl. ferner Zöpfl II. §. 386 fg.
4) Man könnte mit demſelben Grunde aus jeder Vorſchrift der Prozeß-
Ordnungen und des Strafrechts ſubjective Rechte für alle diejenigen herleiten,
welche einmal in die Lage kommen, daß dieſe Vorſchrift auf ſie Anwendung
findet.
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[570/0590] §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. ſammten Verhandlungen und einen Abdruck der, den Verhandlungen zu Grunde liegenden ſchriftlichen Vorlagen, Anträge und Berichte unter der Bezeichnung „Anlagen“. Jedes Mitglied iſt außerdem befugt, bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abſtimmungen ſeine von dem Mehrheitsbeſchluſſe abweichende Abſtimmung kurz motivirt ſchriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme in die ſtenographiſchen Berichte, ohne vorgängige Verleſung in dem Reichstage, zu verlangen 1). Die ſtenographiſchen Berichte werden gedruckt und erſcheinen nach Legislatur-Perioden und Seſ- ſionen und in chronologiſcher Reihenfolge der Sitzungen geordnet im Buchhandel 2). §. 52. Schutz der Reichstags-Mitglieder. Den Mitgliedern des Reichstages die freie und unabhängige Ausübung der ihnen obliegenden Funktionen zu ſichern, iſt der gemeinſame Zweck einer Reihe von Rechtsvorſchriften. In der Literatur faßt man dieſelben gewöhnlich unter dem Geſichtspunkte auf, daß es ſich hierbei um perſönliche Rechte der Reichs- tagsmitglieder handle 3). Dies iſt indeß unrichtig. Alle dieſe Vorſchriften begründen keine ſubjectiven Berechtigungen; ſie ſind vielmehr ihrem Inhalte nach Rechtsſätze des Strafrechts und des Prozeſſes, welche auf politiſchen und ſtaatsrechtlichen Motiven beruhen. Es ſind objective Spezial-Rechtsſätze, nicht durch Privileg begründete ſubjective Rechte, welche beſtimmten Individuen zuſtehen. Die Mitgliedſchaft im Reichstage iſt zwar die Vorausſetzung für die Anwendung dieſer Rechtsvorſchriften, aber die Anwendung derſelben hängt nicht von dem Willen des Mitgliedes ab 4). Es iſt dies für die allgemeine theoretiſche Auf- 1) Geſch.-Ordn. §. 56. Beiſpiele: Stenogr. Berichte 1874 I. Seſſion. S. 110 und 111. 2) Von dem verfaſſunggebenden Reichstage von 1867 an im Verlage der Buchdruckerei der „Norddeutſchen Allgem. Zeitung“ in Berlin. Eine offizielle Autorität kömmt den Stenogr. Berichten nicht zu. Thudichum S. 196. 3) Vrgl. z. B. v. Pözl S. 129. v. Rönne S. 174. Weſterkamp S. 109. Vgl. ferner Zöpfl II. §. 386 fg. 4) Man könnte mit demſelben Grunde aus jeder Vorſchrift der Prozeß- Ordnungen und des Strafrechts ſubjective Rechte für alle diejenigen herleiten, welche einmal in die Lage kommen, daß dieſe Vorſchrift auf ſie Anwendung findet.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/590>, abgerufen am 29.03.2024.