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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764.

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IX. Hauptstück,
aus denken, als die Sinnen reichen, und was
man nicht unmittelbar erfahren, folglich ohne
Rücksicht auf andre Erkenntniß sehen oder em-
pfinden könne, das sey über den Gesichtskrais
der menschlichen Erkenntniß hinausgerückt,
und uns zu wissen unmöglich
etc.

§. 602.

Diese Vorurtheile führen uns auf den Unterschied
der historischen und wissenschaftlichen Erkennt-
niß,
und zugleich auch auf das, was letztere vor-
aus hat, und wozu sie uns eigentlich dienen
soll.
Wir wollen damit anfangen, daß wir den Un-
terschied in augenscheinlichen Beyspielen zeigen, die
wir aus den mathematischen Wissenschaften nehmen
wollen, weil diese auch dermalen noch Muster von
Wissenschaften bleiben, und in Erfindung und Be-
stimmung dessen, was man nicht erfahren kann, am
weitesten und zugleich am sichersten gehen.

§. 603.

Die Größe einer Sache finden, heißt nach
der gemeinen Erkenntniß nicht mehr, als dieselbe
wirklich ausmessen, und daher urtheilen die meisten
Menschen, daß, was man nicht wirklich ausmessen
kann, dessen Größe könne auch nicht gefunden wer-
den, und sie bleiben ungläubig, wenn man von der
Entfernung des Mondes, der Planeten, von der
Größe der Erde etc. spricht. Letzteres fängt nach und
nach an, ein Stück der gemeinen oder historischen Er-
kenntniß zu werden, weil man Nachrichten hat,
daß man die Erde umschiffen kann. Denn nach der
gemeinen Erkenntniß räumt man endlich ein, daß
man messen könne, so weit man kommen kann, und
daher sey es eben kein Wunder, wenn man wisse, wie
lang der Weg um die Erde ist. Hingegen aber ist

man

IX. Hauptſtuͤck,
aus denken, als die Sinnen reichen, und was
man nicht unmittelbar erfahren, folglich ohne
Ruͤckſicht auf andre Erkenntniß ſehen oder em-
pfinden koͤnne, das ſey uͤber den Geſichtskrais
der menſchlichen Erkenntniß hinausgeruͤckt,
und uns zu wiſſen unmoͤglich
ꝛc.

§. 602.

Dieſe Vorurtheile fuͤhren uns auf den Unterſchied
der hiſtoriſchen und wiſſenſchaftlichen Erkennt-
niß,
und zugleich auch auf das, was letztere vor-
aus hat, und wozu ſie uns eigentlich dienen
ſoll.
Wir wollen damit anfangen, daß wir den Un-
terſchied in augenſcheinlichen Beyſpielen zeigen, die
wir aus den mathematiſchen Wiſſenſchaften nehmen
wollen, weil dieſe auch dermalen noch Muſter von
Wiſſenſchaften bleiben, und in Erfindung und Be-
ſtimmung deſſen, was man nicht erfahren kann, am
weiteſten und zugleich am ſicherſten gehen.

§. 603.

Die Groͤße einer Sache finden, heißt nach
der gemeinen Erkenntniß nicht mehr, als dieſelbe
wirklich ausmeſſen, und daher urtheilen die meiſten
Menſchen, daß, was man nicht wirklich ausmeſſen
kann, deſſen Groͤße koͤnne auch nicht gefunden wer-
den, und ſie bleiben unglaͤubig, wenn man von der
Entfernung des Mondes, der Planeten, von der
Groͤße der Erde ꝛc. ſpricht. Letzteres faͤngt nach und
nach an, ein Stuͤck der gemeinen oder hiſtoriſchen Er-
kenntniß zu werden, weil man Nachrichten hat,
daß man die Erde umſchiffen kann. Denn nach der
gemeinen Erkenntniß raͤumt man endlich ein, daß
man meſſen koͤnne, ſo weit man kommen kann, und
daher ſey es eben kein Wunder, wenn man wiſſe, wie
lang der Weg um die Erde iſt. Hingegen aber iſt

man
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[388/0410] IX. Hauptſtuͤck, aus denken, als die Sinnen reichen, und was man nicht unmittelbar erfahren, folglich ohne Ruͤckſicht auf andre Erkenntniß ſehen oder em- pfinden koͤnne, das ſey uͤber den Geſichtskrais der menſchlichen Erkenntniß hinausgeruͤckt, und uns zu wiſſen unmoͤglich ꝛc. §. 602. Dieſe Vorurtheile fuͤhren uns auf den Unterſchied der hiſtoriſchen und wiſſenſchaftlichen Erkennt- niß, und zugleich auch auf das, was letztere vor- aus hat, und wozu ſie uns eigentlich dienen ſoll. Wir wollen damit anfangen, daß wir den Un- terſchied in augenſcheinlichen Beyſpielen zeigen, die wir aus den mathematiſchen Wiſſenſchaften nehmen wollen, weil dieſe auch dermalen noch Muſter von Wiſſenſchaften bleiben, und in Erfindung und Be- ſtimmung deſſen, was man nicht erfahren kann, am weiteſten und zugleich am ſicherſten gehen. §. 603. Die Groͤße einer Sache finden, heißt nach der gemeinen Erkenntniß nicht mehr, als dieſelbe wirklich ausmeſſen, und daher urtheilen die meiſten Menſchen, daß, was man nicht wirklich ausmeſſen kann, deſſen Groͤße koͤnne auch nicht gefunden wer- den, und ſie bleiben unglaͤubig, wenn man von der Entfernung des Mondes, der Planeten, von der Groͤße der Erde ꝛc. ſpricht. Letzteres faͤngt nach und nach an, ein Stuͤck der gemeinen oder hiſtoriſchen Er- kenntniß zu werden, weil man Nachrichten hat, daß man die Erde umſchiffen kann. Denn nach der gemeinen Erkenntniß raͤumt man endlich ein, daß man meſſen koͤnne, ſo weit man kommen kann, und daher ſey es eben kein Wunder, wenn man wiſſe, wie lang der Weg um die Erde iſt. Hingegen aber iſt man

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 1. Leipzig, 1764, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon01_1764/410>, abgerufen am 28.03.2024.