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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der physiognomischen Kenntnisse des Verfassers.
und außer meinem Vaterlande -- -- Dieß und meine tägliche Freude an neuen Beobach-
tungen -- und noch einige andre Gründe -- bewogen mich, einige meiner Beobachtungen,
Empfindungen, Radotages, Träumereyen, Schwärmereyen -- wie man's nennen will, be-
kannt zu machen.

Seit diesem Entschlusse, den ich vor ungefähr anderthalb Jahren gefaßt hatte, und in des-
sen Ausführung ich freylich täglich hundert unvorgesehne Schwierigkeiten antraf, hab ich dennoch
beynahe täglich neue Beobachtungen gemacht, die mich in den Stand setzten, wenigstens etwas
zu versprechen.

Jch ließ rechts und links Versuche von Zeichnungen aller Art machen; Jch betrachtete
und verglich unzählige Menschen und allerley Arten menschlicher Bildnisse. Jch bat Freunde,
mir behülflich zu seyn. Die häufigen täglichen Fehler meiner Zeichner und Kupferstecher waren
die kräftigsten Beförderungsmittel meiner Kenntnisse. Jch mußte mich über vieles ausdrücken,
vieles tadeln, vieles vergleichen lernen, was ich vorher noch zu sehr nur überhaupt bemerkt hatte. --
Mein Beruf führte mich zu den merkwürdigsten Menschen aller Arten, führte die sonderbarsten
Menschen aller Arten zu mir. Eine Reise, die ich meiner Gesundheit wegen, und aus inniger
Sehnsucht nach vielen mir von Person unbekannten Freunden -- vornahm, -- führte meinem
mit der großen Welt ganz unbekannten -- übrigens nicht ganz übungslosen Aug' ein unzähliges
Heer neuer Gestalten zu: Ohne allemal beobachten zu wollen, mußt' ich bisweilen beobachten.
So bevestigte, berichtigte, erweiterte sich meine Einsicht -- Jch wollt' oft alle Schriftsteller
von der Physiognomie durchgehen, fieng an hier und dort zu lesen, konnte aber das Gewäsche der
meisten, die alle den Aristoteles ausschrieben, kaum ausstehen. Dann schmiß ich sie sogleich
wieder weg -- und hielt mich, wie zuvor an die bloße Natur und an Bilder -- gewöhnte mich
aber besonders seit langem, immer nur das Schöne, das Edle, das Gute und Vollkommne
aufzuspüren, zu bestimmen, mein Gesicht daran zu gewöhnen, mein Gefühl daran zu wär-
men, -- fand täglich neue Schwierigkeiten und neue Beförderungsmittel meiner Kenntnisse --
irrte mich täglich, und wurde täglich sicherer; ließ mich loben und schelten, auslachen und er-
heben: -- lachte über beydes, weil ich beydes gleich wenig zu verdienen glaubte; freute mich
immer mehr, des Nutzens, der Menschenfreude, die ich durch meine Schrift zu veranlassen

hoffte,
C 2

der phyſiognomiſchen Kenntniſſe des Verfaſſers.
und außer meinem Vaterlande — — Dieß und meine taͤgliche Freude an neuen Beobach-
tungen — und noch einige andre Gruͤnde — bewogen mich, einige meiner Beobachtungen,
Empfindungen, Radotages, Traͤumereyen, Schwaͤrmereyen — wie man's nennen will, be-
kannt zu machen.

Seit dieſem Entſchluſſe, den ich vor ungefaͤhr anderthalb Jahren gefaßt hatte, und in deſ-
ſen Ausfuͤhrung ich freylich taͤglich hundert unvorgeſehne Schwierigkeiten antraf, hab ich dennoch
beynahe taͤglich neue Beobachtungen gemacht, die mich in den Stand ſetzten, wenigſtens etwas
zu verſprechen.

Jch ließ rechts und links Verſuche von Zeichnungen aller Art machen; Jch betrachtete
und verglich unzaͤhlige Menſchen und allerley Arten menſchlicher Bildniſſe. Jch bat Freunde,
mir behuͤlflich zu ſeyn. Die haͤufigen taͤglichen Fehler meiner Zeichner und Kupferſtecher waren
die kraͤftigſten Befoͤrderungsmittel meiner Kenntniſſe. Jch mußte mich uͤber vieles ausdruͤcken,
vieles tadeln, vieles vergleichen lernen, was ich vorher noch zu ſehr nur uͤberhaupt bemerkt hatte. —
Mein Beruf fuͤhrte mich zu den merkwuͤrdigſten Menſchen aller Arten, fuͤhrte die ſonderbarſten
Menſchen aller Arten zu mir. Eine Reiſe, die ich meiner Geſundheit wegen, und aus inniger
Sehnſucht nach vielen mir von Perſon unbekannten Freunden — vornahm, — fuͤhrte meinem
mit der großen Welt ganz unbekannten — uͤbrigens nicht ganz uͤbungsloſen Aug' ein unzaͤhliges
Heer neuer Geſtalten zu: Ohne allemal beobachten zu wollen, mußt' ich bisweilen beobachten.
So beveſtigte, berichtigte, erweiterte ſich meine Einſicht — Jch wollt' oft alle Schriftſteller
von der Phyſiognomie durchgehen, fieng an hier und dort zu leſen, konnte aber das Gewaͤſche der
meiſten, die alle den Ariſtoteles ausſchrieben, kaum ausſtehen. Dann ſchmiß ich ſie ſogleich
wieder weg — und hielt mich, wie zuvor an die bloße Natur und an Bilder — gewoͤhnte mich
aber beſonders ſeit langem, immer nur das Schoͤne, das Edle, das Gute und Vollkommne
aufzuſpuͤren, zu beſtimmen, mein Geſicht daran zu gewoͤhnen, mein Gefuͤhl daran zu waͤr-
men, — fand taͤglich neue Schwierigkeiten und neue Befoͤrderungsmittel meiner Kenntniſſe —
irrte mich taͤglich, und wurde taͤglich ſicherer; ließ mich loben und ſchelten, auslachen und er-
heben: — lachte uͤber beydes, weil ich beydes gleich wenig zu verdienen glaubte; freute mich
immer mehr, des Nutzens, der Menſchenfreude, die ich durch meine Schrift zu veranlaſſen

hoffte,
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[11/0035] der phyſiognomiſchen Kenntniſſe des Verfaſſers. und außer meinem Vaterlande — — Dieß und meine taͤgliche Freude an neuen Beobach- tungen — und noch einige andre Gruͤnde — bewogen mich, einige meiner Beobachtungen, Empfindungen, Radotages, Traͤumereyen, Schwaͤrmereyen — wie man's nennen will, be- kannt zu machen. Seit dieſem Entſchluſſe, den ich vor ungefaͤhr anderthalb Jahren gefaßt hatte, und in deſ- ſen Ausfuͤhrung ich freylich taͤglich hundert unvorgeſehne Schwierigkeiten antraf, hab ich dennoch beynahe taͤglich neue Beobachtungen gemacht, die mich in den Stand ſetzten, wenigſtens etwas zu verſprechen. Jch ließ rechts und links Verſuche von Zeichnungen aller Art machen; Jch betrachtete und verglich unzaͤhlige Menſchen und allerley Arten menſchlicher Bildniſſe. Jch bat Freunde, mir behuͤlflich zu ſeyn. Die haͤufigen taͤglichen Fehler meiner Zeichner und Kupferſtecher waren die kraͤftigſten Befoͤrderungsmittel meiner Kenntniſſe. Jch mußte mich uͤber vieles ausdruͤcken, vieles tadeln, vieles vergleichen lernen, was ich vorher noch zu ſehr nur uͤberhaupt bemerkt hatte. — Mein Beruf fuͤhrte mich zu den merkwuͤrdigſten Menſchen aller Arten, fuͤhrte die ſonderbarſten Menſchen aller Arten zu mir. Eine Reiſe, die ich meiner Geſundheit wegen, und aus inniger Sehnſucht nach vielen mir von Perſon unbekannten Freunden — vornahm, — fuͤhrte meinem mit der großen Welt ganz unbekannten — uͤbrigens nicht ganz uͤbungsloſen Aug' ein unzaͤhliges Heer neuer Geſtalten zu: Ohne allemal beobachten zu wollen, mußt' ich bisweilen beobachten. So beveſtigte, berichtigte, erweiterte ſich meine Einſicht — Jch wollt' oft alle Schriftſteller von der Phyſiognomie durchgehen, fieng an hier und dort zu leſen, konnte aber das Gewaͤſche der meiſten, die alle den Ariſtoteles ausſchrieben, kaum ausſtehen. Dann ſchmiß ich ſie ſogleich wieder weg — und hielt mich, wie zuvor an die bloße Natur und an Bilder — gewoͤhnte mich aber beſonders ſeit langem, immer nur das Schoͤne, das Edle, das Gute und Vollkommne aufzuſpuͤren, zu beſtimmen, mein Geſicht daran zu gewoͤhnen, mein Gefuͤhl daran zu waͤr- men, — fand taͤglich neue Schwierigkeiten und neue Befoͤrderungsmittel meiner Kenntniſſe — irrte mich taͤglich, und wurde taͤglich ſicherer; ließ mich loben und ſchelten, auslachen und er- heben: — lachte uͤber beydes, weil ich beydes gleich wenig zu verdienen glaubte; freute mich immer mehr, des Nutzens, der Menſchenfreude, die ich durch meine Schrift zu veranlaſſen hoffte, C 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/35>, abgerufen am 23.04.2024.