Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Fragment.
mental-Physiognomik heißen; oder, wenns nicht mißtönend und ungeschickt ausgedrückt wäre,
die physiologische.

Man kann durch die Zergliederung Theile des Menschen zu Oberflächen machen -- ge-
wisse innere Theile können besonders beobachtet werden, entweder durch äußere Endungen, oder
durch Aufschließung der Körper. Die Fertigkeit von diesen Aeußerlichkeiten auf gewisse innere
Beschaffenheiten zu schließen, wäre die anatomische Physiognomik; diese beschäfftigt sich mit der
Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Muskeln, der Eingeweyde; der
Drüsen, der Adern und Gefäße, der Nerven; der Banden der Gebeine.

Man kann die Blutmischung, die Constitution, die Wärme, die Kälte, die Plumpheit oder
Feinheit, die Feuchtigkeit, Trockenheit, Biegsamkeit, Reizbarkeit eines Menschen wiederum ins-
besondere betrachten: Und die Fertigkeit in solchen Beobachtungen und daraus hergeleiteten Urthei-
len über seinen Character -- könnte man Temperamentsphysiognomik heißen.

Medicinische Physiognomik diejenige, die sich mit Erforschung der Zeichen der Ge-
sundheit und Krankheit des menschlichen Körpers beschäfftigt.

Die moralische, die die Gesinnungen und Kräfte des Menschen Gutes oder Böses zu
wirken, oder -- zu leiden, aus äußern Zeichen erforscht.

Die intellectuelle, die sich mit den Geisteskräften des Menschen, in so fern sie durch seine
Bildung, Gestalt, Farbe, Bewegungen, kurz durch sein ganzes Aeußeres, erkennbar sind,
beschäfftigt.

Und so verschiedene besondere Seiten der Mensch haben mag, so vielerley Arten der Phy-
siognomik sind möglich.

Wer bloß nach den ersten Eindrücken, welche das Aeußere eines Menschen auf uns
macht, richtig von seinem Character urtheilt -- ist ein natürlicher Physiognomist; -- wer
bestimmt die Züge, die Aeußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die ihm Character sind,
ein wissenschaftlicher; und ein philosophischer der, der die Gründe von diesen so und so be-
stimmten Zügen und Ausdrücken, die innern Ursachen dieser äußern Wirkungen zu bestim-
men im Stande ist.

Aus

II. Fragment.
mental-Phyſiognomik heißen; oder, wenns nicht mißtoͤnend und ungeſchickt ausgedruͤckt waͤre,
die phyſiologiſche.

Man kann durch die Zergliederung Theile des Menſchen zu Oberflaͤchen machen — ge-
wiſſe innere Theile koͤnnen beſonders beobachtet werden, entweder durch aͤußere Endungen, oder
durch Aufſchließung der Koͤrper. Die Fertigkeit von dieſen Aeußerlichkeiten auf gewiſſe innere
Beſchaffenheiten zu ſchließen, waͤre die anatomiſche Phyſiognomik; dieſe beſchaͤfftigt ſich mit der
Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Muſkeln, der Eingeweyde; der
Druͤſen, der Adern und Gefaͤße, der Nerven; der Banden der Gebeine.

Man kann die Blutmiſchung, die Conſtitution, die Waͤrme, die Kaͤlte, die Plumpheit oder
Feinheit, die Feuchtigkeit, Trockenheit, Biegſamkeit, Reizbarkeit eines Menſchen wiederum ins-
beſondere betrachten: Und die Fertigkeit in ſolchen Beobachtungen und daraus hergeleiteten Urthei-
len uͤber ſeinen Character — koͤnnte man Temperamentsphyſiognomik heißen.

Mediciniſche Phyſiognomik diejenige, die ſich mit Erforſchung der Zeichen der Ge-
ſundheit und Krankheit des menſchlichen Koͤrpers beſchaͤfftigt.

Die moraliſche, die die Geſinnungen und Kraͤfte des Menſchen Gutes oder Boͤſes zu
wirken, oder — zu leiden, aus aͤußern Zeichen erforſcht.

Die intellectuelle, die ſich mit den Geiſteskraͤften des Menſchen, in ſo fern ſie durch ſeine
Bildung, Geſtalt, Farbe, Bewegungen, kurz durch ſein ganzes Aeußeres, erkennbar ſind,
beſchaͤfftigt.

Und ſo verſchiedene beſondere Seiten der Menſch haben mag, ſo vielerley Arten der Phy-
ſiognomik ſind moͤglich.

Wer bloß nach den erſten Eindruͤcken, welche das Aeußere eines Menſchen auf uns
macht, richtig von ſeinem Character urtheilt — iſt ein natuͤrlicher Phyſiognomiſt; — wer
beſtimmt die Zuͤge, die Aeußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die ihm Character ſind,
ein wiſſenſchaftlicher; und ein philoſophiſcher der, der die Gruͤnde von dieſen ſo und ſo be-
ſtimmten Zuͤgen und Ausdruͤcken, die innern Urſachen dieſer aͤußern Wirkungen zu beſtim-
men im Stande iſt.

Aus
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0038" n="14"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi><hi rendition="#g">Fragment</hi>.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">mental-Phy&#x017F;iognomik</hi> heißen; oder, wenns nicht mißto&#x0364;nend und unge&#x017F;chickt ausgedru&#x0364;ckt wa&#x0364;re,<lb/>
die <hi rendition="#fr">phy&#x017F;iologi&#x017F;che.</hi></p><lb/>
          <p>Man kann durch die Zergliederung Theile des Men&#x017F;chen zu Oberfla&#x0364;chen machen &#x2014; ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e innere Theile ko&#x0364;nnen be&#x017F;onders beobachtet werden, entweder durch a&#x0364;ußere Endungen, oder<lb/>
durch Auf&#x017F;chließung der Ko&#x0364;rper. Die Fertigkeit von die&#x017F;en <hi rendition="#fr">Aeußerlichkeiten</hi> auf gewi&#x017F;&#x017F;e innere<lb/>
Be&#x017F;chaffenheiten zu &#x017F;chließen, wa&#x0364;re die <hi rendition="#fr">anatomi&#x017F;che Phy&#x017F;iognomik;</hi> die&#x017F;e be&#x017F;cha&#x0364;fftigt &#x017F;ich mit der<lb/>
Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Mu&#x017F;keln, der Eingeweyde; der<lb/>
Dru&#x0364;&#x017F;en, der Adern und Gefa&#x0364;ße, der Nerven; der Banden der Gebeine.</p><lb/>
          <p>Man kann die Blutmi&#x017F;chung, die Con&#x017F;titution, die Wa&#x0364;rme, die Ka&#x0364;lte, die Plumpheit oder<lb/>
Feinheit, die Feuchtigkeit, Trockenheit, Bieg&#x017F;amkeit, Reizbarkeit eines Men&#x017F;chen wiederum ins-<lb/>
be&#x017F;ondere betrachten: Und die Fertigkeit in &#x017F;olchen Beobachtungen und daraus hergeleiteten Urthei-<lb/>
len u&#x0364;ber &#x017F;einen Character &#x2014; ko&#x0364;nnte man <hi rendition="#fr">Temperamentsphy&#x017F;iognomik</hi> heißen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Medicini&#x017F;che Phy&#x017F;iognomik</hi> diejenige, die &#x017F;ich mit Erfor&#x017F;chung der Zeichen der Ge-<lb/>
&#x017F;undheit und Krankheit des men&#x017F;chlichen Ko&#x0364;rpers be&#x017F;cha&#x0364;fftigt.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#fr">morali&#x017F;che,</hi> die die Ge&#x017F;innungen und Kra&#x0364;fte des Men&#x017F;chen Gutes oder Bo&#x0364;&#x017F;es zu<lb/>
wirken, oder &#x2014; zu leiden, aus a&#x0364;ußern Zeichen erfor&#x017F;cht.</p><lb/>
          <p>Die <hi rendition="#fr">intellectuelle,</hi> die &#x017F;ich mit den Gei&#x017F;teskra&#x0364;ften des Men&#x017F;chen, in &#x017F;o fern &#x017F;ie durch &#x017F;eine<lb/>
Bildung, Ge&#x017F;talt, Farbe, Bewegungen, kurz durch &#x017F;ein ganzes Aeußeres, erkennbar &#x017F;ind,<lb/>
be&#x017F;cha&#x0364;fftigt.</p><lb/>
          <p>Und &#x017F;o ver&#x017F;chiedene be&#x017F;ondere Seiten der Men&#x017F;ch haben mag, &#x017F;o vielerley Arten der Phy-<lb/>
&#x017F;iognomik &#x017F;ind mo&#x0364;glich.</p><lb/>
          <p>Wer bloß nach den er&#x017F;ten Eindru&#x0364;cken, welche das Aeußere eines Men&#x017F;chen auf uns<lb/>
macht, richtig von &#x017F;einem Character urtheilt &#x2014; i&#x017F;t ein <hi rendition="#fr">natu&#x0364;rlicher</hi> Phy&#x017F;iognomi&#x017F;t; &#x2014; wer<lb/>
be&#x017F;timmt die Zu&#x0364;ge, die Aeußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die ihm <hi rendition="#fr">Character</hi> &#x017F;ind,<lb/>
ein <hi rendition="#fr">wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlicher;</hi> und ein <hi rendition="#fr">philo&#x017F;ophi&#x017F;cher</hi> der, der die <hi rendition="#fr">Gru&#x0364;nde</hi> von die&#x017F;en &#x017F;o und &#x017F;o be-<lb/>
&#x017F;timmten Zu&#x0364;gen und Ausdru&#x0364;cken, die <hi rendition="#fr">innern Ur&#x017F;achen</hi> die&#x017F;er <hi rendition="#fr">a&#x0364;ußern Wirkungen</hi> zu be&#x017F;tim-<lb/>
men im Stande i&#x017F;t.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Aus</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0038] II. Fragment. mental-Phyſiognomik heißen; oder, wenns nicht mißtoͤnend und ungeſchickt ausgedruͤckt waͤre, die phyſiologiſche. Man kann durch die Zergliederung Theile des Menſchen zu Oberflaͤchen machen — ge- wiſſe innere Theile koͤnnen beſonders beobachtet werden, entweder durch aͤußere Endungen, oder durch Aufſchließung der Koͤrper. Die Fertigkeit von dieſen Aeußerlichkeiten auf gewiſſe innere Beſchaffenheiten zu ſchließen, waͤre die anatomiſche Phyſiognomik; dieſe beſchaͤfftigt ſich mit der Beobachtung und Beurtheilung der Knochen und Gebeine, der Muſkeln, der Eingeweyde; der Druͤſen, der Adern und Gefaͤße, der Nerven; der Banden der Gebeine. Man kann die Blutmiſchung, die Conſtitution, die Waͤrme, die Kaͤlte, die Plumpheit oder Feinheit, die Feuchtigkeit, Trockenheit, Biegſamkeit, Reizbarkeit eines Menſchen wiederum ins- beſondere betrachten: Und die Fertigkeit in ſolchen Beobachtungen und daraus hergeleiteten Urthei- len uͤber ſeinen Character — koͤnnte man Temperamentsphyſiognomik heißen. Mediciniſche Phyſiognomik diejenige, die ſich mit Erforſchung der Zeichen der Ge- ſundheit und Krankheit des menſchlichen Koͤrpers beſchaͤfftigt. Die moraliſche, die die Geſinnungen und Kraͤfte des Menſchen Gutes oder Boͤſes zu wirken, oder — zu leiden, aus aͤußern Zeichen erforſcht. Die intellectuelle, die ſich mit den Geiſteskraͤften des Menſchen, in ſo fern ſie durch ſeine Bildung, Geſtalt, Farbe, Bewegungen, kurz durch ſein ganzes Aeußeres, erkennbar ſind, beſchaͤfftigt. Und ſo verſchiedene beſondere Seiten der Menſch haben mag, ſo vielerley Arten der Phy- ſiognomik ſind moͤglich. Wer bloß nach den erſten Eindruͤcken, welche das Aeußere eines Menſchen auf uns macht, richtig von ſeinem Character urtheilt — iſt ein natuͤrlicher Phyſiognomiſt; — wer beſtimmt die Zuͤge, die Aeußerlichkeiten anzugeben und zu ordnen weiß, die ihm Character ſind, ein wiſſenſchaftlicher; und ein philoſophiſcher der, der die Gruͤnde von dieſen ſo und ſo be- ſtimmten Zuͤgen und Ausdruͤcken, die innern Urſachen dieſer aͤußern Wirkungen zu beſtim- men im Stande iſt. Aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/38
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/38>, abgerufen am 19.04.2024.