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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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XXXIV. Fragment.
ten -- wie ein solches Gesicht -- voll Männlichkeit, und dennoch überfließend von schmachtender,
treffender Verliebtheit, ohne einen Funken kindlicher Jungfräulichkeit.

"L'independance, apres la verite, etoit la plus grande passion de Descartes ...
Mich dünkt, dieß steh ihm mit den deutlichsten Zügen im Gesichte geschrieben. "Il falloit, qu'un
"homme comme lui, ne fut qu'a la nature & au genre humain.

Noch hab' ich nichts von seiner Stirne gesagt. Sie ist ausserordentlich, wie der Mann.
Sehr zurückgehend, oben sich gegen den Schädel zuspitzend, Zeichen von gedrängter Kraft -- bey
diesem Bogen, wie er sich im Profile zeigen müßte -- und bey dieser scharfen, nicht überhängenden
Ecke des Augknochens. -- Weide dich, Leser, an diesem trefflichen Bilde und freue dich, daß Gott
dem Menschen mehr ins Gesichte gegraben hat von seiner innern Kraft, als keine Feder beschrei-
ben kann.

Neunte und zehnte Tafel.
Jsaac Neuton. Vier schattirte Köpfe.

Wie sehr die verschiedenen Vorstellungsarten der Mahler, und ihre verschiedenen Fähigkeiten ein
und ebendenselben Mann umbilden und verschieben -- davon haben wir schon manches Beyspiel
angeführt. Ein neues sey Neuton.

Wir haben hier vier Copien von Copien -- die alle einen großen ausserordentlichen
Mann -- aber denselben Mann in sehr ungleichem Lichte zeigen.

1.

Das erste wird wohl das beste seyn?

Voll innerer Kraft die Augen, den Gegenstand zu fassen; ihn zu ergreifen, nicht bloß
zu beleuchten; nicht ihn ins Gedächtniß aufzuhäufen; sondern ihn zu verschlingen, und in das
große All, das im Haupte ist, immanieren zu lassen. -- Augen voll Schöpfungskraft -- und
Augenbraunen voll der lichtvollsten, solidesten Fruchtbarkeit.

Die

XXXIV. Fragment.
ten — wie ein ſolches Geſicht — voll Maͤnnlichkeit, und dennoch uͤberfließend von ſchmachtender,
treffender Verliebtheit, ohne einen Funken kindlicher Jungfraͤulichkeit.

„L’indépendance, après la verité, étoit la plus grande paſſion de Deſcartes ...
Mich duͤnkt, dieß ſteh ihm mit den deutlichſten Zuͤgen im Geſichte geſchrieben. „Il falloit, qu’un
„homme comme lui, ne fut qu’à la nature & au genre humain.

Noch hab’ ich nichts von ſeiner Stirne geſagt. Sie iſt auſſerordentlich, wie der Mann.
Sehr zuruͤckgehend, oben ſich gegen den Schaͤdel zuſpitzend, Zeichen von gedraͤngter Kraft — bey
dieſem Bogen, wie er ſich im Profile zeigen muͤßte — und bey dieſer ſcharfen, nicht uͤberhaͤngenden
Ecke des Augknochens. — Weide dich, Leſer, an dieſem trefflichen Bilde und freue dich, daß Gott
dem Menſchen mehr ins Geſichte gegraben hat von ſeiner innern Kraft, als keine Feder beſchrei-
ben kann.

Neunte und zehnte Tafel.
Jſaac Neuton. Vier ſchattirte Koͤpfe.

Wie ſehr die verſchiedenen Vorſtellungsarten der Mahler, und ihre verſchiedenen Faͤhigkeiten ein
und ebendenſelben Mann umbilden und verſchieben — davon haben wir ſchon manches Beyſpiel
angefuͤhrt. Ein neues ſey Neuton.

Wir haben hier vier Copien von Copien — die alle einen großen auſſerordentlichen
Mann — aber denſelben Mann in ſehr ungleichem Lichte zeigen.

1.

Das erſte wird wohl das beſte ſeyn?

Voll innerer Kraft die Augen, den Gegenſtand zu faſſen; ihn zu ergreifen, nicht bloß
zu beleuchten; nicht ihn ins Gedaͤchtniß aufzuhaͤufen; ſondern ihn zu verſchlingen, und in das
große All, das im Haupte iſt, immanieren zu laſſen. — Augen voll Schoͤpfungskraft — und
Augenbraunen voll der lichtvollſten, ſolideſten Fruchtbarkeit.

Die
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[276/0488] XXXIV. Fragment. ten — wie ein ſolches Geſicht — voll Maͤnnlichkeit, und dennoch uͤberfließend von ſchmachtender, treffender Verliebtheit, ohne einen Funken kindlicher Jungfraͤulichkeit. „L’indépendance, après la verité, étoit la plus grande paſſion de Deſcartes ... Mich duͤnkt, dieß ſteh ihm mit den deutlichſten Zuͤgen im Geſichte geſchrieben. „Il falloit, qu’un „homme comme lui, ne fut qu’à la nature & au genre humain. Noch hab’ ich nichts von ſeiner Stirne geſagt. Sie iſt auſſerordentlich, wie der Mann. Sehr zuruͤckgehend, oben ſich gegen den Schaͤdel zuſpitzend, Zeichen von gedraͤngter Kraft — bey dieſem Bogen, wie er ſich im Profile zeigen muͤßte — und bey dieſer ſcharfen, nicht uͤberhaͤngenden Ecke des Augknochens. — Weide dich, Leſer, an dieſem trefflichen Bilde und freue dich, daß Gott dem Menſchen mehr ins Geſichte gegraben hat von ſeiner innern Kraft, als keine Feder beſchrei- ben kann. Neunte und zehnte Tafel. Jſaac Neuton. Vier ſchattirte Koͤpfe. Wie ſehr die verſchiedenen Vorſtellungsarten der Mahler, und ihre verſchiedenen Faͤhigkeiten ein und ebendenſelben Mann umbilden und verſchieben — davon haben wir ſchon manches Beyſpiel angefuͤhrt. Ein neues ſey Neuton. Wir haben hier vier Copien von Copien — die alle einen großen auſſerordentlichen Mann — aber denſelben Mann in ſehr ungleichem Lichte zeigen. 1. Das erſte wird wohl das beſte ſeyn? Voll innerer Kraft die Augen, den Gegenſtand zu faſſen; ihn zu ergreifen, nicht bloß zu beleuchten; nicht ihn ins Gedaͤchtniß aufzuhaͤufen; ſondern ihn zu verſchlingen, und in das große All, das im Haupte iſt, immanieren zu laſſen. — Augen voll Schoͤpfungskraft — und Augenbraunen voll der lichtvollſten, ſolideſten Fruchtbarkeit. Die

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/488>, abgerufen am 28.03.2024.