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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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III. Abschnitt. VIII. Fragment.
Menschensohn lästerten; sich an der Menschheit des Messiä ärgerten -- Aber diese Vollkommen-
heiten, diesen Geist einer Person fühlen und doch lästern; ist unverzeihlich.

Lästerung des Geistes einer jeden Sache, in so fern er erkannt und gefühlt wird, ist
unverzeihlich, das ist, zeigt einen natürlicher Weise unverbesserlichen Menschen an -- wie
viel mehr die Lästerung des Geistes des guten Menschen; wie viel mehr des Geistes Chri-
sti
-- sofern er in seinem Angesichte oder seinen Thaten erkannt und gefühlt ward. Auch ist's
gewiß Violation Gottes und ein crimen lesae majestatis, ein Gesicht voll Salbung und Geist
zu mißhandeln; und es ist eine sehr allgemeine Warnung des Geistes der Wahrheit: Tastet mei-
ne Gesalbten nicht an; thut meinen Propheten kein Leid.

11.

Nichts ist verborgen, das nicht werde offenbar werden. Und nichts geschieht,
daß es heimlich bleibe, sondern daß es an das Licht komme. Marc. IV. 22. Auch auf die-
se Wahrheit drückt die Physiognomik das Siegel.

12.

Das Reich Gottes ist gleich als wenn ein Mensch Saamen in das Erdreich wirft,
und er schläft, und steht auf, Nachts und Tags -- und der Saame wächst und geht
auf, daß er es selbst nicht weiß; denn die Erde trägt von ihr selbst Frucht -- zum ersten
das Gras; darnach die Aehre; darnach den vollen Weizen in der Aehre.
Marc. IV. 26.
28. -- So geht's mit jeder guten Physiognomie, in die guter Saame gepflanzt wird.

13.

Und als er von fern einen Feigenbaum sah, der Laub hatte, kam er: ob er viel-
leicht etwas an demselben fände? Und als er zu demselben kam, fand er nichts, dann
nur Laub -- Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es esse fürhin niemand keine Frucht
von dir in Ewigkeit. Marc. XI. 13. -- Siehe hier dein Schicksal -- schöner Körper ohne Geist
und Herz! ohne Züge, die Zeugen von deiner moralischen Fruchtbarkeit.

14.

Als aber der Pharisäer, der ihn geladen hatte, solches sah, sprach er bey sich
selbst -- "wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er freylich, wer und was für ein Weib

es

III. Abſchnitt. VIII. Fragment.
Menſchenſohn laͤſterten; ſich an der Menſchheit des Meſſiaͤ aͤrgerten — Aber dieſe Vollkommen-
heiten, dieſen Geiſt einer Perſon fuͤhlen und doch laͤſtern; iſt unverzeihlich.

Laͤſterung des Geiſtes einer jeden Sache, in ſo fern er erkannt und gefuͤhlt wird, iſt
unverzeihlich, das iſt, zeigt einen natuͤrlicher Weiſe unverbeſſerlichen Menſchen an — wie
viel mehr die Laͤſterung des Geiſtes des guten Menſchen; wie viel mehr des Geiſtes Chri-
ſti
— ſofern er in ſeinem Angeſichte oder ſeinen Thaten erkannt und gefuͤhlt ward. Auch iſt’s
gewiß Violation Gottes und ein crimen leſae majeſtatis, ein Geſicht voll Salbung und Geiſt
zu mißhandeln; und es iſt eine ſehr allgemeine Warnung des Geiſtes der Wahrheit: Taſtet mei-
ne Geſalbten nicht an; thut meinen Propheten kein Leid.

11.

Nichts iſt verborgen, das nicht werde offenbar werden. Und nichts geſchieht,
daß es heimlich bleibe, ſondern daß es an das Licht komme. Marc. IV. 22. Auch auf die-
ſe Wahrheit druͤckt die Phyſiognomik das Siegel.

12.

Das Reich Gottes iſt gleich als wenn ein Menſch Saamen in das Erdreich wirft,
und er ſchlaͤft, und ſteht auf, Nachts und Tags — und der Saame waͤchſt und geht
auf, daß er es ſelbſt nicht weiß; denn die Erde traͤgt von ihr ſelbſt Frucht — zum erſten
das Gras; darnach die Aehre; darnach den vollen Weizen in der Aehre.
Marc. IV. 26.
28. — So geht’s mit jeder guten Phyſiognomie, in die guter Saame gepflanzt wird.

13.

Und als er von fern einen Feigenbaum ſah, der Laub hatte, kam er: ob er viel-
leicht etwas an demſelben faͤnde? Und als er zu demſelben kam, fand er nichts, dann
nur Laub — Jeſus antwortete und ſprach zu ihm: Es eſſe fuͤrhin niemand keine Frucht
von dir in Ewigkeit. Marc. XI. 13. — Siehe hier dein Schickſal — ſchoͤner Koͤrper ohne Geiſt
und Herz! ohne Zuͤge, die Zeugen von deiner moraliſchen Fruchtbarkeit.

14.

Als aber der Phariſaͤer, der ihn geladen hatte, ſolches ſah, ſprach er bey ſich
ſelbſt — „wenn dieſer ein Prophet waͤre, ſo wuͤßte er freylich, wer und was fuͤr ein Weib

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[206/0236] III. Abſchnitt. VIII. Fragment. Menſchenſohn laͤſterten; ſich an der Menſchheit des Meſſiaͤ aͤrgerten — Aber dieſe Vollkommen- heiten, dieſen Geiſt einer Perſon fuͤhlen und doch laͤſtern; iſt unverzeihlich. Laͤſterung des Geiſtes einer jeden Sache, in ſo fern er erkannt und gefuͤhlt wird, iſt unverzeihlich, das iſt, zeigt einen natuͤrlicher Weiſe unverbeſſerlichen Menſchen an — wie viel mehr die Laͤſterung des Geiſtes des guten Menſchen; wie viel mehr des Geiſtes Chri- ſti — ſofern er in ſeinem Angeſichte oder ſeinen Thaten erkannt und gefuͤhlt ward. Auch iſt’s gewiß Violation Gottes und ein crimen leſae majeſtatis, ein Geſicht voll Salbung und Geiſt zu mißhandeln; und es iſt eine ſehr allgemeine Warnung des Geiſtes der Wahrheit: Taſtet mei- ne Geſalbten nicht an; thut meinen Propheten kein Leid. 11. Nichts iſt verborgen, das nicht werde offenbar werden. Und nichts geſchieht, daß es heimlich bleibe, ſondern daß es an das Licht komme. Marc. IV. 22. Auch auf die- ſe Wahrheit druͤckt die Phyſiognomik das Siegel. 12. Das Reich Gottes iſt gleich als wenn ein Menſch Saamen in das Erdreich wirft, und er ſchlaͤft, und ſteht auf, Nachts und Tags — und der Saame waͤchſt und geht auf, daß er es ſelbſt nicht weiß; denn die Erde traͤgt von ihr ſelbſt Frucht — zum erſten das Gras; darnach die Aehre; darnach den vollen Weizen in der Aehre. Marc. IV. 26. 28. — So geht’s mit jeder guten Phyſiognomie, in die guter Saame gepflanzt wird. 13. Und als er von fern einen Feigenbaum ſah, der Laub hatte, kam er: ob er viel- leicht etwas an demſelben faͤnde? Und als er zu demſelben kam, fand er nichts, dann nur Laub — Jeſus antwortete und ſprach zu ihm: Es eſſe fuͤrhin niemand keine Frucht von dir in Ewigkeit. Marc. XI. 13. — Siehe hier dein Schickſal — ſchoͤner Koͤrper ohne Geiſt und Herz! ohne Zuͤge, die Zeugen von deiner moraliſchen Fruchtbarkeit. 14. Als aber der Phariſaͤer, der ihn geladen hatte, ſolches ſah, ſprach er bey ſich ſelbſt — „wenn dieſer ein Prophet waͤre, ſo wuͤßte er freylich, wer und was fuͤr ein Weib es

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/236>, abgerufen am 29.03.2024.