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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Vermischte Nationalgesichter.
C. Ns. 3. Sechs männliche Gesichter.
Des IV Ban-
des XX Tafel.
Ns. 3. Sechs
männliche Ge-
sichter.

Das erste Paar ist französische Nation, erst verdeutscht, dann verkleinstädtelt.

Das zweyte und dritte Paar ist inalterable Deutschheit. Jch rede vom Bilde,
das wir vor uns haben.

Nur noch einige besondere Bemerkungen.

1) Allerhöchste Atonie harmloser Selbstgenugsamkeit. Alles schlaff und gedehnt.

2) Viel könnende triviale Welt- und Lebensklugheit. Mehr zielend und thätig,
als 1.

3) Das schielende Aug ausgenommen, welches Argwohn und planmachende Spitzbüberey
auszudrücken scheint -- ein trefflich aktives, festes, altdeutsches Mannsgesicht.

4) Weitaus der Wackerste auf diesem Blatte! gerade! fest! mannhaft! angreifend! über-
legend -- könnte beynah ein Götz von Berlichingen seyn.

5) Gewiß das Original -- (So viel ist noch aus der verunstalteten Figur sichtbar) ein
sehr bedächtlicher, kluger, reinlicher, gefälliger, niemanden beleidigender Hofmann.

6) Am meisten verunedelt, verkleinlicht! Größe und Kleinheit, bloß durch der Bearbeiter
Schuld zusammengeflickt! Die ganze Form des Gesichtes muß gewiß in der Natur von den treff-
lichsten seyn. Durch die Verkleinerung der Nase -- durch das Verbissene im Munde -- wie
viel ist dem Gesichte -- der Stirne, dem Kinne, und zum Theil auch dem Auge abgezogen
worden!

O ihr Mahler und Zeichner -- wann werde ich euch nicht mehr umsonst predigen?

[Spaltenumbruch]
Siebentes
Alles Karrikaturen von treffenden Charaktern aus
verschiedenen Gegenden. Jch kenne kein Urbild, und weiß
doch gewiß, daß keines dieser Gesichter ähnlich ist; und
daß jede der drey Hände, durch welche sie gegangen,
eine gute Dosis eigener Physiognomie beygemischt hat.
Zeichnungen formen sich um wie die Menschen in frem-
den Ländern. Ein deutsches Gesicht wird unter der
Hand des Franzosen französisch; und ein französisches
Gesicht deutsch unter den Händen des deutschen Künst-
lers. Der Mahler der kleinen Stadt ist dergestalt mit
[Spaltenumbruch] kleinstädtischen Physiognomien genährt, daß er mehr
als ein Mensch seyn müßte, wenn sich nichts davon in
seine Zeichnung mischte; auch wenn er die edelsten, er-
habensten Gesichter vor sich hätte. So allgemein ein-
dringenden, allverschlingenden Einfluß hat das phy-
siognomische Wesen. Es wirkte auch auf die Gesichter
unserer Tafel. Dieß ist besonders in der ersten, fünften
und sechsten Figur sehr sichtbar. Man denke also nicht
an Originale.
Phys. Fragm. IV Versuch. R r
Vermiſchte Nationalgeſichter.
C. Ns. 3. Sechs maͤnnliche Geſichter.
Des IV Ban-
des XX Tafel.
Ns. 3. Sechs
maͤnnliche Ge-
ſichter.

Das erſte Paar iſt franzoͤſiſche Nation, erſt verdeutſcht, dann verkleinſtaͤdtelt.

Das zweyte und dritte Paar iſt inalterable Deutſchheit. Jch rede vom Bilde,
das wir vor uns haben.

Nur noch einige beſondere Bemerkungen.

1) Allerhoͤchſte Atonie harmloſer Selbſtgenugſamkeit. Alles ſchlaff und gedehnt.

2) Viel koͤnnende triviale Welt- und Lebensklugheit. Mehr zielend und thaͤtig,
als 1.

3) Das ſchielende Aug ausgenommen, welches Argwohn und planmachende Spitzbuͤberey
auszudruͤcken ſcheint — ein trefflich aktives, feſtes, altdeutſches Mannsgeſicht.

4) Weitaus der Wackerſte auf dieſem Blatte! gerade! feſt! mannhaft! angreifend! uͤber-
legend — koͤnnte beynah ein Goͤtz von Berlichingen ſeyn.

5) Gewiß das Original — (So viel iſt noch aus der verunſtalteten Figur ſichtbar) ein
ſehr bedaͤchtlicher, kluger, reinlicher, gefaͤlliger, niemanden beleidigender Hofmann.

6) Am meiſten verunedelt, verkleinlicht! Groͤße und Kleinheit, bloß durch der Bearbeiter
Schuld zuſammengeflickt! Die ganze Form des Geſichtes muß gewiß in der Natur von den treff-
lichſten ſeyn. Durch die Verkleinerung der Naſe — durch das Verbiſſene im Munde — wie
viel iſt dem Geſichte — der Stirne, dem Kinne, und zum Theil auch dem Auge abgezogen
worden!

O ihr Mahler und Zeichner — wann werde ich euch nicht mehr umſonſt predigen?

[Spaltenumbruch]
Siebentes
Alles Karrikaturen von treffenden Charaktern aus
verſchiedenen Gegenden. Jch kenne kein Urbild, und weiß
doch gewiß, daß keines dieſer Geſichter aͤhnlich iſt; und
daß jede der drey Haͤnde, durch welche ſie gegangen,
eine gute Doſis eigener Phyſiognomie beygemiſcht hat.
Zeichnungen formen ſich um wie die Menſchen in frem-
den Laͤndern. Ein deutſches Geſicht wird unter der
Hand des Franzoſen franzoͤſiſch; und ein franzoͤſiſches
Geſicht deutſch unter den Haͤnden des deutſchen Kuͤnſt-
lers. Der Mahler der kleinen Stadt iſt dergeſtalt mit
[Spaltenumbruch] kleinſtaͤdtiſchen Phyſiognomien genaͤhrt, daß er mehr
als ein Menſch ſeyn muͤßte, wenn ſich nichts davon in
ſeine Zeichnung miſchte; auch wenn er die edelſten, er-
habenſten Geſichter vor ſich haͤtte. So allgemein ein-
dringenden, allverſchlingenden Einfluß hat das phy-
ſiognomiſche Weſen. Es wirkte auch auf die Geſichter
unſerer Tafel. Dieß iſt beſonders in der erſten, fuͤnften
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an Originale.
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[313/0369] Vermiſchte Nationalgeſichter. C. Ns. 3. Sechs maͤnnliche Geſichter. Das erſte Paar iſt franzoͤſiſche Nation, erſt verdeutſcht, dann verkleinſtaͤdtelt. Das zweyte und dritte Paar iſt inalterable Deutſchheit. Jch rede vom Bilde, das wir vor uns haben. Nur noch einige beſondere Bemerkungen. 1) Allerhoͤchſte Atonie harmloſer Selbſtgenugſamkeit. Alles ſchlaff und gedehnt. 2) Viel koͤnnende triviale Welt- und Lebensklugheit. Mehr zielend und thaͤtig, als 1. 3) Das ſchielende Aug ausgenommen, welches Argwohn und planmachende Spitzbuͤberey auszudruͤcken ſcheint — ein trefflich aktives, feſtes, altdeutſches Mannsgeſicht. 4) Weitaus der Wackerſte auf dieſem Blatte! gerade! feſt! mannhaft! angreifend! uͤber- legend — koͤnnte beynah ein Goͤtz von Berlichingen ſeyn. 5) Gewiß das Original — (So viel iſt noch aus der verunſtalteten Figur ſichtbar) ein ſehr bedaͤchtlicher, kluger, reinlicher, gefaͤlliger, niemanden beleidigender Hofmann. 6) Am meiſten verunedelt, verkleinlicht! Groͤße und Kleinheit, bloß durch der Bearbeiter Schuld zuſammengeflickt! Die ganze Form des Geſichtes muß gewiß in der Natur von den treff- lichſten ſeyn. Durch die Verkleinerung der Naſe — durch das Verbiſſene im Munde — wie viel iſt dem Geſichte — der Stirne, dem Kinne, und zum Theil auch dem Auge abgezogen worden! O ihr Mahler und Zeichner — wann werde ich euch nicht mehr umſonſt predigen? Siebentes Alles Karrikaturen von treffenden Charaktern aus verſchiedenen Gegenden. Jch kenne kein Urbild, und weiß doch gewiß, daß keines dieſer Geſichter aͤhnlich iſt; und daß jede der drey Haͤnde, durch welche ſie gegangen, eine gute Doſis eigener Phyſiognomie beygemiſcht hat. Zeichnungen formen ſich um wie die Menſchen in frem- den Laͤndern. Ein deutſches Geſicht wird unter der Hand des Franzoſen franzoͤſiſch; und ein franzoͤſiſches Geſicht deutſch unter den Haͤnden des deutſchen Kuͤnſt- lers. Der Mahler der kleinen Stadt iſt dergeſtalt mit kleinſtaͤdtiſchen Phyſiognomien genaͤhrt, daß er mehr als ein Menſch ſeyn muͤßte, wenn ſich nichts davon in ſeine Zeichnung miſchte; auch wenn er die edelſten, er- habenſten Geſichter vor ſich haͤtte. So allgemein ein- dringenden, allverſchlingenden Einfluß hat das phy- ſiognomiſche Weſen. Es wirkte auch auf die Geſichter unſerer Tafel. Dieß iſt beſonders in der erſten, fuͤnften und ſechsten Figur ſehr ſichtbar. Man denke alſo nicht an Originale. Phyſ. Fragm. IV Verſuch. R r

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/369>, abgerufen am 29.03.2024.