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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Zur Ausfüllung des leeren Raums.

"Nicht ohne Ursache thun die Mahommedaner, wenn sie nach Mekka reisen, allemal vorher das Gebeth
"an ihren Propheten: Er möchte sie unterwegs vor widrigen Gesichtern bewahren!" --



"Wo ich Talente sehe, öffne ich kühnlich Thür und Thor meines Herzens. Werde ich betrogen, so werde
"ich's auf keinem Schleichwege, und das ist wenigstens auch ein Trost. Talente aber bilden sich in festen Theilen
"des Kopfes; das kann niemand läugnen, der sie dort gefühlt hat; je sichtbarer die Proportion, desto schneller
"mein Zutrauen." Jugendliche Deklamation? -- "Nicht so ganz! wenigstens sind die Momente der himmlischen
"Aufrichtigkeit, des Wohlwollens, der Ordnungsliebe eben so zweydeutig. Denn wer ist nicht wohlwollend, auf-
"richtig, ordnungsliebend, wenn er weiß, daß er beobachtet wird? Und Ueberraschen ist in unsern Verhältnissen
"nicht möglich. Jch bete diese Eigenschaften an, wo ich sie finde, und habe die Entzückungen gefühlt, sie zu fin-
"den. Aber wer in unserer Welt darf sich seinem Gefühle überlassen, wenn er nichts festes hat, an dem er sich hal-
"ten kann?"

"Der Winkelmannischen Schönheit sollte man wenigstens die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, die jener
"bekannte Schriftsteller den Demokratien in der Schweiz wiederfahren ließ; daß, so lange nur das Gerüste stehe,
"wo Patrioten Tugend und Weisheit handeln können, noch nicht alle Hoffnung verloren sey. Jch meyne aber:
"hier steht mehr als Gerüste, wenn wir die Schönheit nicht nur in Glätte und Farbe, nicht nur in Proportion der
"Theile zu einander, sondern auch in den Wohllaut setzen, den die Bewegung dieser Theile zu dem bekannten oder
"unbekannten Rationellen macht, das der Physiognomist suchen soll. Dieß ist der Fall auch bey den häßlichsten.
"Es giebt Leute, die gefallen, sobald sie ins Zimmer treten, ob sie schon nichts haben, was man eigentlich schön
"nennen kann; und wieder andere, die, ohne einen sichtbaren Mackel an ihrem äußerlichen Menschen, widerlich wer-
"den, und die jedermann angähnen muß. Jch denke, was schön macht, ist Kraft und thätig leidende Sympathie;
"NB. die nicht affektirt ist. Jn Monarchien ist das öfters der Fall, wo die besten Leute eingewickelten Kindern glei-
"chen, die alles wollen und nichts können. -- Kein Mensch ist fähig, einen Charakter zu schätzen, am allerwenig-
"sten aus äußern Zeichen, zu dem er nicht ein Verhältniß in sich spürt, sey es auch in Graden noch so verschieden --
"Je gerechter und strenger die Selbsterkenntniß ist, desto sicherer werden wir den individuellen Charakter außer uns
"finden, so sehr er in gewissem Punkt den unsrigen berühren mag. So wird die Physiognomik zugleich zur Erhö-
"hung unsers Werthes beytragen, wäre es nichts weiter, als daß wir aufhörten, Menschen bessern, das ist, sie
"nach unserm Bilde formen zu wollen.

"Aber freylich läugnet man noch immer, läugnen die Freunde der Physiognomik selbst in ihrem Herzen,
"(sagen wider ihre Ueberzeugung die Antiphysiognomiker) daß die Natur sich Menschen durch Menschen habe offen-
"baren wollen, mit einer Hartnäckigkeit, die über den Charakter unsers Jahrhunderts erstaunen macht.

Bey allen meinen Bemühungen für die Physiognomik und bey aller unaustilgbaren Gewißheit, daß al-
les äußerliche Wirkung und Zeichen unsichtbarer Jnnerlichkeiten sey, behaupte ich dennoch mit dem unbekannten
Verfasser dieses Aufsatzes, aus welchem diese Stellen hergenommen sind, daß man durch Pathognomik, ja ich will
hinzu thun, Physiognomik, nicht alle Gedanken der Menschen entdecken könne, so wenig auf dem stürmischen Meere
die Kiesel im Grunde zu zählen sind. Jch glaube auch mit dem Verfasser, "daß der Schleyer, der um so manche
"der menschlichen Gedanken und Neigungen gezogen ist, eine der Hauptursachen ist, daß sie sich noch bey einander
"vertragen, und ohne diesen das schöne Schauspiel des innern Wustes ihrer Anschläge und Begierden uns bald da-
"hin bringen würde, dem ganzen menschlichen Geschlechte den Rücken zuzuwenden und zu suchen, wo der Ausgang
"aus diesem Schauspielhause zu finden sey. Und was das Gute anbetrifft, (sage ich mit ihm) mich wenigstens
"würde es nicht freuen, wenn ich kein geheimes Plätzchen in meinem Herzen übrig behalten könnte, sondern es wie
"ein Wirthshaus jedermanns Augen offen stehen müßte."

Deutscher Merkur, Octob. 1777.

Erstes
Zur Ausfuͤllung des leeren Raums.

„Nicht ohne Urſache thun die Mahommedaner, wenn ſie nach Mekka reiſen, allemal vorher das Gebeth
„an ihren Propheten: Er moͤchte ſie unterwegs vor widrigen Geſichtern bewahren!“ —



„Wo ich Talente ſehe, oͤffne ich kuͤhnlich Thuͤr und Thor meines Herzens. Werde ich betrogen, ſo werde
„ich’s auf keinem Schleichwege, und das iſt wenigſtens auch ein Troſt. Talente aber bilden ſich in feſten Theilen
„des Kopfes; das kann niemand laͤugnen, der ſie dort gefuͤhlt hat; je ſichtbarer die Proportion, deſto ſchneller
„mein Zutrauen.“ Jugendliche Deklamation? — „Nicht ſo ganz! wenigſtens ſind die Momente der himmliſchen
„Aufrichtigkeit, des Wohlwollens, der Ordnungsliebe eben ſo zweydeutig. Denn wer iſt nicht wohlwollend, auf-
„richtig, ordnungsliebend, wenn er weiß, daß er beobachtet wird? Und Ueberraſchen iſt in unſern Verhaͤltniſſen
„nicht moͤglich. Jch bete dieſe Eigenſchaften an, wo ich ſie finde, und habe die Entzuͤckungen gefuͤhlt, ſie zu fin-
„den. Aber wer in unſerer Welt darf ſich ſeinem Gefuͤhle uͤberlaſſen, wenn er nichts feſtes hat, an dem er ſich hal-
„ten kann?“

„Der Winkelmanniſchen Schoͤnheit ſollte man wenigſtens die Gerechtigkeit wiederfahren laſſen, die jener
„bekannte Schriftſteller den Demokratien in der Schweiz wiederfahren ließ; daß, ſo lange nur das Geruͤſte ſtehe,
„wo Patrioten Tugend und Weisheit handeln koͤnnen, noch nicht alle Hoffnung verloren ſey. Jch meyne aber:
„hier ſteht mehr als Geruͤſte, wenn wir die Schoͤnheit nicht nur in Glaͤtte und Farbe, nicht nur in Proportion der
„Theile zu einander, ſondern auch in den Wohllaut ſetzen, den die Bewegung dieſer Theile zu dem bekannten oder
„unbekannten Rationellen macht, das der Phyſiognomiſt ſuchen ſoll. Dieß iſt der Fall auch bey den haͤßlichſten.
„Es giebt Leute, die gefallen, ſobald ſie ins Zimmer treten, ob ſie ſchon nichts haben, was man eigentlich ſchoͤn
„nennen kann; und wieder andere, die, ohne einen ſichtbaren Mackel an ihrem aͤußerlichen Menſchen, widerlich wer-
„den, und die jedermann angaͤhnen muß. Jch denke, was ſchoͤn macht, iſt Kraft und thaͤtig leidende Sympathie;
NB. die nicht affektirt iſt. Jn Monarchien iſt das oͤfters der Fall, wo die beſten Leute eingewickelten Kindern glei-
„chen, die alles wollen und nichts koͤnnen. — Kein Menſch iſt faͤhig, einen Charakter zu ſchaͤtzen, am allerwenig-
„ſten aus aͤußern Zeichen, zu dem er nicht ein Verhaͤltniß in ſich ſpuͤrt, ſey es auch in Graden noch ſo verſchieden —
„Je gerechter und ſtrenger die Selbſterkenntniß iſt, deſto ſicherer werden wir den individuellen Charakter außer uns
„finden, ſo ſehr er in gewiſſem Punkt den unſrigen beruͤhren mag. So wird die Phyſiognomik zugleich zur Erhoͤ-
„hung unſers Werthes beytragen, waͤre es nichts weiter, als daß wir aufhoͤrten, Menſchen beſſern, das iſt, ſie
„nach unſerm Bilde formen zu wollen.

„Aber freylich laͤugnet man noch immer, laͤugnen die Freunde der Phyſiognomik ſelbſt in ihrem Herzen,
„(ſagen wider ihre Ueberzeugung die Antiphyſiognomiker) daß die Natur ſich Menſchen durch Menſchen habe offen-
„baren wollen, mit einer Hartnaͤckigkeit, die uͤber den Charakter unſers Jahrhunderts erſtaunen macht.

Bey allen meinen Bemuͤhungen fuͤr die Phyſiognomik und bey aller unaustilgbaren Gewißheit, daß al-
les aͤußerliche Wirkung und Zeichen unſichtbarer Jnnerlichkeiten ſey, behaupte ich dennoch mit dem unbekannten
Verfaſſer dieſes Aufſatzes, aus welchem dieſe Stellen hergenommen ſind, daß man durch Pathognomik, ja ich will
hinzu thun, Phyſiognomik, nicht alle Gedanken der Menſchen entdecken koͤnne, ſo wenig auf dem ſtuͤrmiſchen Meere
die Kieſel im Grunde zu zaͤhlen ſind. Jch glaube auch mit dem Verfaſſer, „daß der Schleyer, der um ſo manche
„der menſchlichen Gedanken und Neigungen gezogen iſt, eine der Haupturſachen iſt, daß ſie ſich noch bey einander
„vertragen, und ohne dieſen das ſchoͤne Schauſpiel des innern Wuſtes ihrer Anſchlaͤge und Begierden uns bald da-
„hin bringen wuͤrde, dem ganzen menſchlichen Geſchlechte den Ruͤcken zuzuwenden und zu ſuchen, wo der Ausgang
„aus dieſem Schauſpielhauſe zu finden ſey. Und was das Gute anbetrifft, (ſage ich mit ihm) mich wenigſtens
„wuͤrde es nicht freuen, wenn ich kein geheimes Plaͤtzchen in meinem Herzen uͤbrig behalten koͤnnte, ſondern es wie
„ein Wirthshaus jedermanns Augen offen ſtehen muͤßte.“

Deutſcher Merkur, Octob. 1777.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. [458]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/602>, abgerufen am 28.03.2024.