Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



weiß eines unendlich freyhandelnden We-
sens ist, so ist der erste Trieb, den wir in
unserer Seele fühlen, die Begierde 's ihm
nachzuthun; da aber die Welt keine Brücken
hat, und wir uns schon mit den Dingen, die
da sind, begnügen müssen, fühlen wir wenig-
stens Zuwachs unsrer Existenz, Glückselig-
keit, ihm nachzuäffen, seine Schöpfung ins
Kleine zu schaffen. Obschon ich nun wegen
dieses Grundtriebes nicht nöthig hätte mich
auf eine Authorität zu berufen, so will ich
doch nach der einmal eingeführten Weise
mich auf die Worte eines grossen Kunstrich-
ters mit einem Bart lehnen, eines Kunst-
richters, der in meinen Anmerkungen noch
manchmal ins Gewehr treten wird. Aristote-
les im vierten Buch seiner Poetik: "Es scheint,
daß überhaupt zwey natürliche Ursachen zur
Poesie Gelegenheit gegeben. Denn es ist
dem Menschen von Kindesbeinen an eigen,
nachzuahmen. Und in diesem Stück liegt sein
Unterscheidungszeichen von den Thieren.
Der Mensch ist ein Thier, das vorzüglich ge-
schickt ist, nachzuahmen. Ein Glück, daß
er vorzüglich sagt, denn was würde sonst
aus den Affen werden?

Jch habe eine grosse Hochachtung für den
Aristoteles, obwohl nicht für seinen Bart, den
ich allenfalls mit Peter Ramus, dem jedoch

der



weiß eines unendlich freyhandelnden We-
ſens iſt, ſo iſt der erſte Trieb, den wir in
unſerer Seele fuͤhlen, die Begierde ’s ihm
nachzuthun; da aber die Welt keine Bruͤcken
hat, und wir uns ſchon mit den Dingen, die
da ſind, begnuͤgen muͤſſen, fuͤhlen wir wenig-
ſtens Zuwachs unſrer Exiſtenz, Gluͤckſelig-
keit, ihm nachzuaͤffen, ſeine Schoͤpfung ins
Kleine zu ſchaffen. Obſchon ich nun wegen
dieſes Grundtriebes nicht noͤthig haͤtte mich
auf eine Authoritaͤt zu berufen, ſo will ich
doch nach der einmal eingefuͤhrten Weiſe
mich auf die Worte eines groſſen Kunſtrich-
ters mit einem Bart lehnen, eines Kunſt-
richters, der in meinen Anmerkungen noch
manchmal ins Gewehr treten wird. Ariſtote-
les im vierten Buch ſeiner Poetik: „Es ſcheint,
daß uͤberhaupt zwey natuͤrliche Urſachen zur
Poeſie Gelegenheit gegeben. Denn es iſt
dem Menſchen von Kindesbeinen an eigen,
nachzuahmen. Und in dieſem Stuͤck liegt ſein
Unterſcheidungszeichen von den Thieren.
Der Menſch iſt ein Thier, das vorzuͤglich ge-
ſchickt iſt, nachzuahmen. Ein Gluͤck, daß
er vorzuͤglich ſagt, denn was wuͤrde ſonſt
aus den Affen werden?

Jch habe eine groſſe Hochachtung fuͤr den
Ariſtoteles, obwohl nicht fuͤr ſeinen Bart, den
ich allenfalls mit Peter Ramus, dem jedoch

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0017" n="11"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
weiß eines unendlich freyhandelnden We-<lb/>
&#x017F;ens i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t der er&#x017F;te Trieb, den wir in<lb/>
un&#x017F;erer Seele fu&#x0364;hlen, die Begierde &#x2019;s ihm<lb/>
nachzuthun; da aber die Welt keine Bru&#x0364;cken<lb/>
hat, und wir uns &#x017F;chon mit den Dingen, die<lb/>
da &#x017F;ind, begnu&#x0364;gen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, fu&#x0364;hlen wir wenig-<lb/>
&#x017F;tens Zuwachs un&#x017F;rer Exi&#x017F;tenz, Glu&#x0364;ck&#x017F;elig-<lb/>
keit, ihm nachzua&#x0364;ffen, &#x017F;eine Scho&#x0364;pfung ins<lb/>
Kleine zu &#x017F;chaffen. Ob&#x017F;chon ich nun wegen<lb/>
die&#x017F;es Grundtriebes nicht no&#x0364;thig ha&#x0364;tte mich<lb/>
auf eine Authorita&#x0364;t zu berufen, &#x017F;o will ich<lb/>
doch nach der einmal eingefu&#x0364;hrten Wei&#x017F;e<lb/>
mich auf die Worte eines gro&#x017F;&#x017F;en Kun&#x017F;trich-<lb/>
ters mit einem Bart lehnen, eines Kun&#x017F;t-<lb/>
richters, der in meinen Anmerkungen noch<lb/>
manchmal ins Gewehr treten wird. Ari&#x017F;tote-<lb/>
les im vierten Buch &#x017F;einer Poetik: &#x201E;Es &#x017F;cheint,<lb/>
daß u&#x0364;berhaupt zwey natu&#x0364;rliche Ur&#x017F;achen zur<lb/>
Poe&#x017F;ie Gelegenheit gegeben. Denn es i&#x017F;t<lb/>
dem Men&#x017F;chen von Kindesbeinen an eigen,<lb/>
nachzuahmen. Und in die&#x017F;em Stu&#x0364;ck liegt &#x017F;ein<lb/>
Unter&#x017F;cheidungszeichen von den Thieren.<lb/>
Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t ein Thier, das vorzu&#x0364;glich ge-<lb/>
&#x017F;chickt i&#x017F;t, nachzuahmen. Ein Glu&#x0364;ck, daß<lb/>
er <hi rendition="#g">vorzu&#x0364;glich</hi> &#x017F;agt, denn was wu&#x0364;rde &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
aus den Affen werden?</p><lb/>
        <p>Jch habe eine gro&#x017F;&#x017F;e Hochachtung fu&#x0364;r den<lb/>
Ari&#x017F;toteles, obwohl nicht fu&#x0364;r &#x017F;einen Bart, den<lb/>
ich allenfalls mit Peter Ramus, dem jedoch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[11/0017] weiß eines unendlich freyhandelnden We- ſens iſt, ſo iſt der erſte Trieb, den wir in unſerer Seele fuͤhlen, die Begierde ’s ihm nachzuthun; da aber die Welt keine Bruͤcken hat, und wir uns ſchon mit den Dingen, die da ſind, begnuͤgen muͤſſen, fuͤhlen wir wenig- ſtens Zuwachs unſrer Exiſtenz, Gluͤckſelig- keit, ihm nachzuaͤffen, ſeine Schoͤpfung ins Kleine zu ſchaffen. Obſchon ich nun wegen dieſes Grundtriebes nicht noͤthig haͤtte mich auf eine Authoritaͤt zu berufen, ſo will ich doch nach der einmal eingefuͤhrten Weiſe mich auf die Worte eines groſſen Kunſtrich- ters mit einem Bart lehnen, eines Kunſt- richters, der in meinen Anmerkungen noch manchmal ins Gewehr treten wird. Ariſtote- les im vierten Buch ſeiner Poetik: „Es ſcheint, daß uͤberhaupt zwey natuͤrliche Urſachen zur Poeſie Gelegenheit gegeben. Denn es iſt dem Menſchen von Kindesbeinen an eigen, nachzuahmen. Und in dieſem Stuͤck liegt ſein Unterſcheidungszeichen von den Thieren. Der Menſch iſt ein Thier, das vorzuͤglich ge- ſchickt iſt, nachzuahmen. Ein Gluͤck, daß er vorzuͤglich ſagt, denn was wuͤrde ſonſt aus den Affen werden? Jch habe eine groſſe Hochachtung fuͤr den Ariſtoteles, obwohl nicht fuͤr ſeinen Bart, den ich allenfalls mit Peter Ramus, dem jedoch der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/17
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/17>, abgerufen am 28.03.2024.