Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



delt. Cäsar ist in Rom so nie bedauert
worden, als unter den Händen Shakespears.

Wir sehen also, was der dramatische
Dichter vor dem epischen gewinnt, wie kür-
zern Weg zum Ziel, sein grosses Bild le-
bendig zu machen, wenn er nur sichere
Hand hat, in der Puls der Natur schlägt,
vom göttlichen Genius geführt. Richter
der Lebendigen und der Todten. -- Er
braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit-
tern zu fesseln, das thut der Dekorationen-
mahler für ihn, aller Kunstgriffe überhoben,
schon eingeschattet von dem magischen Licht,
auf das jener so viel Kosten verschwendet,
führt er uns dahin, wo er wollte, ohne
andern Aufwand zu machen, als was er so
gern aufwendet, sein Genie. Hundert Sa-
chen setzt er zum voraus, die ich hier nicht
nennen mag -- und wie höher muß er flie-
gen! Ach mir, daß ich die Geheimnisse
unserer Kunst verrathen muß, den Flor weg-
ziehen, der ihren Reitz so schön und scham-
haft in seine Falten zurückbarg und doch viel-
leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut
zu Tage, da man geniessen will, ohne das
Maul aufzuthun, muß Venus Urania selbst
zur Kokette werden -- fort! Rache!

Da wir am Fundament des Aristoteli-
schen Schauspiels ein wenig gebrochen und

mit



delt. Caͤſar iſt in Rom ſo nie bedauert
worden, als unter den Haͤnden Shakeſpears.

Wir ſehen alſo, was der dramatiſche
Dichter vor dem epiſchen gewinnt, wie kuͤr-
zern Weg zum Ziel, ſein groſſes Bild le-
bendig zu machen, wenn er nur ſichere
Hand hat, in der Puls der Natur ſchlaͤgt,
vom goͤttlichen Genius gefuͤhrt. Richter
der Lebendigen und der Todten. — Er
braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit-
tern zu feſſeln, das thut der Dekorationen-
mahler fuͤr ihn, aller Kunſtgriffe uͤberhoben,
ſchon eingeſchattet von dem magiſchen Licht,
auf das jener ſo viel Koſten verſchwendet,
fuͤhrt er uns dahin, wo er wollte, ohne
andern Aufwand zu machen, als was er ſo
gern aufwendet, ſein Genie. Hundert Sa-
chen ſetzt er zum voraus, die ich hier nicht
nennen mag — und wie hoͤher muß er flie-
gen! Ach mir, daß ich die Geheimniſſe
unſerer Kunſt verrathen muß, den Flor weg-
ziehen, der ihren Reitz ſo ſchoͤn und ſcham-
haft in ſeine Falten zuruͤckbarg und doch viel-
leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut
zu Tage, da man genieſſen will, ohne das
Maul aufzuthun, muß Venus Urania ſelbſt
zur Kokette werden — fort! Rache!

Da wir am Fundament des Ariſtoteli-
ſchen Schauſpiels ein wenig gebrochen und

mit
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0040" n="34"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
delt. Ca&#x0364;&#x017F;ar i&#x017F;t in Rom &#x017F;o nie bedauert<lb/>
worden, als unter den Ha&#x0364;nden Shake&#x017F;pears.</p><lb/>
        <p>Wir &#x017F;ehen al&#x017F;o, was der dramati&#x017F;che<lb/>
Dichter vor dem epi&#x017F;chen gewinnt, wie ku&#x0364;r-<lb/>
zern Weg zum Ziel, &#x017F;ein gro&#x017F;&#x017F;es Bild le-<lb/>
bendig zu machen, wenn er nur &#x017F;ichere<lb/>
Hand hat, in der Puls der Natur &#x017F;chla&#x0364;gt,<lb/>
vom go&#x0364;ttlichen Genius gefu&#x0364;hrt. Richter<lb/>
der Lebendigen und der Todten. &#x2014; Er<lb/>
braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit-<lb/>
tern zu fe&#x017F;&#x017F;eln, das thut der Dekorationen-<lb/>
mahler fu&#x0364;r ihn, aller Kun&#x017F;tgriffe u&#x0364;berhoben,<lb/>
&#x017F;chon einge&#x017F;chattet von dem magi&#x017F;chen Licht,<lb/>
auf das jener &#x017F;o viel Ko&#x017F;ten ver&#x017F;chwendet,<lb/>
fu&#x0364;hrt er uns dahin, wo er wollte, ohne<lb/>
andern Aufwand zu machen, als was er &#x017F;o<lb/>
gern aufwendet, &#x017F;ein Genie. Hundert Sa-<lb/>
chen &#x017F;etzt er zum voraus, die ich hier nicht<lb/>
nennen mag &#x2014; und wie ho&#x0364;her muß er flie-<lb/>
gen! Ach mir, daß ich die Geheimni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
un&#x017F;erer Kun&#x017F;t verrathen muß, den Flor weg-<lb/>
ziehen, der ihren Reitz &#x017F;o &#x017F;cho&#x0364;n und &#x017F;cham-<lb/>
haft in &#x017F;eine Falten zuru&#x0364;ckbarg und doch viel-<lb/>
leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut<lb/>
zu Tage, da man genie&#x017F;&#x017F;en will, ohne das<lb/>
Maul aufzuthun, muß Venus Urania &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zur Kokette werden &#x2014; fort! Rache!</p><lb/>
        <p>Da wir am Fundament des Ari&#x017F;toteli-<lb/>
&#x017F;chen Schau&#x017F;piels ein wenig gebrochen und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[34/0040] delt. Caͤſar iſt in Rom ſo nie bedauert worden, als unter den Haͤnden Shakeſpears. Wir ſehen alſo, was der dramatiſche Dichter vor dem epiſchen gewinnt, wie kuͤr- zern Weg zum Ziel, ſein groſſes Bild le- bendig zu machen, wenn er nur ſichere Hand hat, in der Puls der Natur ſchlaͤgt, vom goͤttlichen Genius gefuͤhrt. Richter der Lebendigen und der Todten. — Er braucht die Sinne nicht mit Witz und Flit- tern zu feſſeln, das thut der Dekorationen- mahler fuͤr ihn, aller Kunſtgriffe uͤberhoben, ſchon eingeſchattet von dem magiſchen Licht, auf das jener ſo viel Koſten verſchwendet, fuͤhrt er uns dahin, wo er wollte, ohne andern Aufwand zu machen, als was er ſo gern aufwendet, ſein Genie. Hundert Sa- chen ſetzt er zum voraus, die ich hier nicht nennen mag — und wie hoͤher muß er flie- gen! Ach mir, daß ich die Geheimniſſe unſerer Kunſt verrathen muß, den Flor weg- ziehen, der ihren Reitz ſo ſchoͤn und ſcham- haft in ſeine Falten zuruͤckbarg und doch viel- leicht noch zu wenig verrathen habe. Heut zu Tage, da man genieſſen will, ohne das Maul aufzuthun, muß Venus Urania ſelbſt zur Kokette werden — fort! Rache! Da wir am Fundament des Ariſtoteli- ſchen Schauſpiels ein wenig gebrochen und mit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/40
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/40>, abgerufen am 29.03.2024.