Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



Sie mirs zu sagen ihr Herren Aristoteliker! --
sie kommt aus der Aehnlichkeit der handeln-
den Personen, partium agentium, die Man-
nigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien
ist die Fundgrube der Natur, hier allein
schlägt die Wünschelruthe des Genies an.
Und sie allein bestimmt die unendliche Man-
nigfaltigkeit der Handlungen und Begeben-
heiten in der Welt. Nur ein Alexander und
nach ihm keiner mehr, und alle Wuth der
Parallelköpfe und Parallelbiographen wird
es dahin nicht bringen, eine vollkommen
getreue Kopie von ihm aufzuweisen. Selbst
die Parallelensucht verräth die Leute und
macht einen besondern Bestimmungsgrund
ihrer Jndividualität.

Es ist keine Kalumnie (ob in den Gesell-
schaften laß ich unentschieden) daß die Fran-
zosen auf der Scene keine Charaktere haben.
Jhre Helden, Heldinnen, Bürger, Bürge-
rinnen, alle ein Gesicht, eine Art zu denken,
also auch eine grosse Einförmigkeit in den
Handlungen. Geeinzelte Karrikaturzüge in
den Lustspielen geben noch keine Umrisse von
Charaktern, personificirte Gemeinplätze über
den Geitz noch keine Personen, ein kützlich-
tes Mädchen und ein Knabe, die allenfalls
ihre Rollen umwechseln könnten, noch keine
Liebhaber. Jch suchte Trost in den sogenann-
ten Charakterstücken, allein ich fand so viel

Aehn-
C 4



Sie mirs zu ſagen ihr Herren Ariſtoteliker! —
ſie kommt aus der Aehnlichkeit der handeln-
den Perſonen, partium agentium, die Man-
nigfaltigkeit der Charaktere und Pſychologien
iſt die Fundgrube der Natur, hier allein
ſchlaͤgt die Wuͤnſchelruthe des Genies an.
Und ſie allein beſtimmt die unendliche Man-
nigfaltigkeit der Handlungen und Begeben-
heiten in der Welt. Nur ein Alexander und
nach ihm keiner mehr, und alle Wuth der
Parallelkoͤpfe und Parallelbiographen wird
es dahin nicht bringen, eine vollkommen
getreue Kopie von ihm aufzuweiſen. Selbſt
die Parallelenſucht verraͤth die Leute und
macht einen beſondern Beſtimmungsgrund
ihrer Jndividualitaͤt.

Es iſt keine Kalumnie (ob in den Geſell-
ſchaften laß ich unentſchieden) daß die Fran-
zoſen auf der Scene keine Charaktere haben.
Jhre Helden, Heldinnen, Buͤrger, Buͤrge-
rinnen, alle ein Geſicht, eine Art zu denken,
alſo auch eine groſſe Einfoͤrmigkeit in den
Handlungen. Geeinzelte Karrikaturzuͤge in
den Luſtſpielen geben noch keine Umriſſe von
Charaktern, perſonificirte Gemeinplaͤtze uͤber
den Geitz noch keine Perſonen, ein kuͤtzlich-
tes Maͤdchen und ein Knabe, die allenfalls
ihre Rollen umwechſeln koͤnnten, noch keine
Liebhaber. Jch ſuchte Troſt in den ſogenann-
ten Charakterſtuͤcken, allein ich fand ſo viel

Aehn-
C 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <p><pb facs="#f0045" n="39"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Sie mirs zu &#x017F;agen ihr Herren Ari&#x017F;toteliker! &#x2014;<lb/>
&#x017F;ie kommt aus der Aehnlichkeit der handeln-<lb/>
den Per&#x017F;onen, <hi rendition="#aq">partium agentium,</hi> die Man-<lb/>
nigfaltigkeit der Charaktere und P&#x017F;ychologien<lb/>
i&#x017F;t die Fundgrube der Natur, hier allein<lb/>
&#x017F;chla&#x0364;gt die Wu&#x0364;n&#x017F;chelruthe des Genies an.<lb/>
Und &#x017F;ie allein be&#x017F;timmt die unendliche Man-<lb/>
nigfaltigkeit der Handlungen und Begeben-<lb/>
heiten in der Welt. Nur ein Alexander und<lb/>
nach ihm keiner mehr, und alle Wuth der<lb/>
Parallelko&#x0364;pfe und Parallelbiographen wird<lb/>
es dahin nicht bringen, eine vollkommen<lb/>
getreue Kopie von ihm aufzuwei&#x017F;en. Selb&#x017F;t<lb/>
die Parallelen&#x017F;ucht verra&#x0364;th die Leute und<lb/>
macht einen be&#x017F;ondern Be&#x017F;timmungsgrund<lb/>
ihrer Jndividualita&#x0364;t.</p><lb/>
        <p>Es i&#x017F;t keine Kalumnie (ob in den Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaften laß ich unent&#x017F;chieden) daß die Fran-<lb/>
zo&#x017F;en auf der Scene keine Charaktere haben.<lb/>
Jhre Helden, Heldinnen, Bu&#x0364;rger,     Bu&#x0364;rge-<lb/>
rinnen, alle ein Ge&#x017F;icht, eine Art zu denken,<lb/>
al&#x017F;o auch eine gro&#x017F;&#x017F;e Einfo&#x0364;rmigkeit in den<lb/>
Handlungen. Geeinzelte Karrikaturzu&#x0364;ge in<lb/>
den Lu&#x017F;t&#x017F;pielen geben noch keine Umri&#x017F;&#x017F;e von<lb/>
Charaktern, per&#x017F;onificirte Gemeinpla&#x0364;tze u&#x0364;ber<lb/>
den Geitz noch keine Per&#x017F;onen, ein ku&#x0364;tzlich-<lb/>
tes Ma&#x0364;dchen und ein Knabe, die allenfalls<lb/>
ihre Rollen <choice><sic>umwech&#x017F;ein</sic><corr>umwech&#x017F;eln</corr></choice> ko&#x0364;nnten, noch keine<lb/>
Liebhaber. Jch &#x017F;uchte Tro&#x017F;t in den &#x017F;ogenann-<lb/>
ten Charakter&#x017F;tu&#x0364;cken, allein ich fand &#x017F;o viel<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Aehn-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0045] Sie mirs zu ſagen ihr Herren Ariſtoteliker! — ſie kommt aus der Aehnlichkeit der handeln- den Perſonen, partium agentium, die Man- nigfaltigkeit der Charaktere und Pſychologien iſt die Fundgrube der Natur, hier allein ſchlaͤgt die Wuͤnſchelruthe des Genies an. Und ſie allein beſtimmt die unendliche Man- nigfaltigkeit der Handlungen und Begeben- heiten in der Welt. Nur ein Alexander und nach ihm keiner mehr, und alle Wuth der Parallelkoͤpfe und Parallelbiographen wird es dahin nicht bringen, eine vollkommen getreue Kopie von ihm aufzuweiſen. Selbſt die Parallelenſucht verraͤth die Leute und macht einen beſondern Beſtimmungsgrund ihrer Jndividualitaͤt. Es iſt keine Kalumnie (ob in den Geſell- ſchaften laß ich unentſchieden) daß die Fran- zoſen auf der Scene keine Charaktere haben. Jhre Helden, Heldinnen, Buͤrger, Buͤrge- rinnen, alle ein Geſicht, eine Art zu denken, alſo auch eine groſſe Einfoͤrmigkeit in den Handlungen. Geeinzelte Karrikaturzuͤge in den Luſtſpielen geben noch keine Umriſſe von Charaktern, perſonificirte Gemeinplaͤtze uͤber den Geitz noch keine Perſonen, ein kuͤtzlich- tes Maͤdchen und ein Knabe, die allenfalls ihre Rollen umwechſeln koͤnnten, noch keine Liebhaber. Jch ſuchte Troſt in den ſogenann- ten Charakterſtuͤcken, allein ich fand ſo viel Aehn- C 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/45
Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/45>, abgerufen am 19.04.2024.